»Und wem gehört dieses Land dann?«, fragte Meredith beharrlich. Er verzog den Mund zu einem trockenen Lächeln.
»Das ist eine gute Frage, wirklich. Es gehört dem Staat. Manche würden sagen, dass es damit Ihnen genauso gehört wie mir.«
»Und Ihre Schafe?«
»Was ist mit meinen Schafen?« Er wurde unruhig.
»Ich lass ein paar Schafe auf dem Land weiden, na und? Sie halten das Gras niedrig. Niemand hat es je verboten. Ich tu ihnen im Gegenteil einen Gefallen. Interessieren Sie sich für meine Schafe oder was?«
»Nein, für die Steine.« Wynne übernahm die Konversation.
»Was können Sie uns über die Steine erzählen?«
»Absolut überhaupt nichts. Die waren schon immer hier und werden wohl auch immer hier bleiben, schätze ich. Wie ich schon sagte, nicht mein Land und nicht meine Angelegenheit.« Er wandte sich halb ab.
»Tut mir Leid, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.« Er wollte gehen, doch Wynne gab sich nicht so leicht geschlagen.
»Uns ist aufgefallen, dass irgendjemand vor kurzem ein großes Feuer neben dem Steinmonument abgebrannt hat.« Er drehte sich nicht zu ihnen um, sondern trottete störrisch in Richtung des Traktors und seiner Arbeit weiter. Er beugte sich über den Motor und grunzte:
»Das haben die Bullen auch gesagt. Sie waren vorhin hier.«
»Wissen Sie, wer das Feuer abgebrannt hat? Es war sehr gefährlich, so etwas zu tun.«
»Keine Ahnung, wer das war. Das hab ich den Bullen auch schon erzählt.« Es gab ein metallisches Geräusch, und der Schraubenzieher fiel in den Motorraum. Er stieß einen Fluch aus.
»Aber Sie müssen das Feuer von hier aus gesehen haben!«, sagte Meredith.
»Wenigstens den roten Lichtschein am Horizont.« Merediths Frage – oder vielleicht war es ihre Gegenwart und die Tatsache, dass ihm der Schraubenzieher heruntergefallen war – machte ihn ärgerlich. Er wirbelte herum, und sein sonnenverbranntes Gesicht war rot vor Zorn.
»Hören Sie, Ma’am, ich weiß nicht, was Sie und Ihre Freundin wollen, aber ich kann Ihnen nicht helfen, klar? Vielleicht habe ich ja gestern Nacht ein Feuer oben auf dem Hügel gesehen, aber es ist nicht das erste Mal und nicht auf meinem Land, und deswegen geht es mich nicht das Geringste an!«
»Nun hören Sie aber mal!«, widersprach Wynne.
»Feuer können sich schnell ausbreiten und außer Kontrolle geraten! So nah bei Ihrem Anwesen – das muss Ihnen doch Sorgen bereitet haben!« Er hob einen schmierigen Lappen auf, der über einem großen Reifen gelegen hatte, und wischte sich damit die Hände, während er den beiden Frauen entgegenkam.
»Jetzt hören Sie mal, alle beide!« Er deutete mit dem Lappen auf Meredith und Wynne.
»Wenn ich das Gefühl gehabt hätte, dass es sich ausbreitet, hätte ich die Feuerwehr angerufen, klar? Aber es hat sich nicht ausgebreitet. Ich hab schon früher Feuer gesehen da oben. Diese Zigeuner oder Hippies zünden sie an. Und ich wohne hier alleine mit meiner Frau und meinem fünfzehnjährigen Sohn auf dem Hof! Ich gehe ganz bestimmt nicht dort rauf und lege mich mit einem halben Dutzend großer Burschen und doppelt so vielen Hunden an, wo das Land nicht einmal mir gehört, ja? Das hab ich den Bullen gesagt, und das sag ich jetzt Ihnen! Und ich sag Ihnen noch was: Das hier ist mein Hof und mein Land, und ich bin ein Mann mit wenig Zeit! Also machen Sie, dass Sie fortkommen, und stellen Sie jemand anderem Ihre Fragen!«
»Er weiß Bescheid, so viel ist sicher«, sagte Meredith, als sie über den Feldweg zur Hauptstraße zurückfuhren.
»Er hat zugegeben, dass er mehr als einmal dort oben Feuer gesehen hat, und er war bestimmt irgendwann mal dort oben, um der Ursache auf den Grund zu gehen! Entweder hat er Angst vor ihnen, oder er gehört dazu. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, sie haben ihm Geld gegeben, damit sie ihre Wagen bei ihm parken dürfen, außer Sichtweite von der Straße. Es ist ein hübscher kleiner Nebenverdienst für ihn, und für sie ist es genau das, was sie brauchen. Über die Felder ist es nur ein kurzer Weg bis zu dem Monument. Haben Sie die Reifenspuren bemerkt?«
»Reifenspuren? Ja, habe ich, bei der Scheune. Vielleicht von dem Streifenwagen?« Wynne schüttelte den Kopf.
»Es waren mehrere verschiedene Profile. Die Spuren stammen von den Wagen der Tänzer. Wir haben ihren Parkplatz gefunden, daran besteht kein Zweifel.« Meredith sah auf ihre Uhr.
»Und was machen wir jetzt? Ich habe Alan versprochen, mich mit ihm zum Mittagessen im King’s Head Pub zu treffen. Wir fahren besser zurück ins Dorf. Leisten Sie uns Gesellschaft, Wynne?«
»Nein, meine Liebe«, sagte Wynne.
»Ich habe noch ein paar andere Dinge zu erledigen. Aber Sie halten mich über die Entwicklungen auf dem Laufenden, ja? Sagen Sie Alan, ich weiß, dass er etwas herausfinden wird.« Alan würde kaum glücklich auf diesen Vertrauensbeweis reagieren.
»Falls es etwas herauszufinden gibt«, antwortete Meredith ausweichend. Hoffentlich erwartete Wynne nicht zu viel.
»O ja!«, sagte Wynne entschieden.
»Und ob es etwas herauszufinden gibt! Ich spüre es in den Knochen. Es wird etwas geschehen!«
Alan wartete bereits im King’s Head. Er saß allein am gleichen Tisch wie beim letzten Mal, eine Hand um ein Pint, während er scheinbar beiläufig die übrigen Gäste des Lokals beobachtete.
Meredith glitt auf den Stuhl ihm gegenüber.
»Wie bist du vorangekommen?«
»Ich hab noch nicht mit dem Arzt gesprochen. Er ist unterwegs und kommt erst am Nachmittag zurück. Ich habe ein langes Gespräch mit Max Crombie geführt. Was möchtest du trinken?«
»Nur einen Sherry bitte. Ich habe Wynne gefragt, ob sie uns Gesellschaft leisten möchte, aber sie hat irgendwelche anderen Dinge zu erledigen. Sie macht sich Sorgen. Sie ist sehr beunruhigt, und ich muss zugeben, sie hat mich ebenfalls in Unruhe versetzt.« Meredith zögerte.
»Wynne ist schon zu lange im Nachrichtengeschäft. Sie hat ein Gespür dafür entwickelt, wenn irgendetwas passieren wird.« Alan murmelte eine unverständliche Antwort und ging zum Tresen, um ihren Sherry zu holen. Während Meredith allein am Tisch saß, blickte sie sich im Lokal um. Sie suchte nach Mervyn Pollard, doch er war nirgends zu sehen. Hinter der Theke stand eine lebhafte junge Frau in einem Baumwollhemd und jeder Menge glitzerndem Schmuck. Alan sprach kurz mit ihr, und Meredith sah, wie die Frau zögerte und die Stirn runzelte, als müsse sie nachdenken, bevor sie sich zur Küchentür umwandte und den Kopf hindurchstreckte, als würde sie Markbys Frage an jemand anderen weitergeben. Eine Sekunde später tauchte ihr Kopf wieder auf. Sie sah Markby an und schüttelte den Kopf. Alan bedankte sich bei ihr und kehrte mit dem Sherry an den Tisch zurück.
»Danke sehr«, sagte Meredith, als er ihr das Glas hingestellt hatte.
»Was war das gerade? Hast du nach Mervyn gefragt?«
»Das habe ich bereits vorhin getan und zur Antwort erhalten, dass er zur Brauerei gefahren wäre. Nein, ich wollte wissen, wo dieser Gelegenheitsarbeiter, dieser Ernie Berry, heute Morgen gesteckt hat. Crombie hat mit ihm gerechnet. Er sollte zu ihm auf den Bauhof kommen, aber er ist offensichtlich unentschuldigt ferngeblieben.« Meredith spürte, wie sich Beunruhigung in ihr regte.
»Kevin hat schon gestern nach Ernie gesucht.«
»Kevin weiß nicht, wo sich Ernie rumtreibt, sagt jedenfalls Crombie. Max Crombie glaubt, dass Ernie wieder eine Freundin gefunden hat. Nein, sag nichts.« Meredith grinste.
»Ich vermute, er hat eine rustikale Art von Charme. Nein, wenn ich’s mir genau überlege, eher doch nicht. Nicht mehr als eine alte Öldose in einem Straßengraben.«
»Aua!« Markby grinste ebenfalls.
»Nicht jeder ist deiner Meinung. Nach Crombies Worten hat Ernie Berry bei den Damen einen sagenhaften Schlag.« Er blickte sie neugierig an.
»Was denkst du jetzt? Du hast so einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht.«
»Vielen Dank! Ich habe gerade überlegt, dass Faune und Satyrn und ähnliche Wesen, die in den vergangenen Jahrhunderten mit Fruchtbarkeit und Lüsternheit in Verbindung gebracht wurden, ausnahmslos ziemlich hässlich dargestellt werden.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Sherry.
»Cheers. Was hat Crombie sonst noch alles zu erzählen gehabt?«
»Nicht viel, was diese Angelegenheit betrifft. Er hat jede Menge geredet, aber nichts verraten. Zwei Dinge könnten interessant sein, und nebenbei bemerkt, die hat er nicht von sich aus herausgerückt. Erstens hat es bei ihm auf dem Bauhof ebenfalls einen Zwischenfall mit Vandalismus gegeben – meine diesbezügliche Frage war ein Schuss ins Blaue hinein. Es war ihm unangenehm, darüber zu reden, das habe ich ihm angesehen. Die andere Sache ist, dass er oben im Haus an einer nicht so leicht einsehbaren Stelle ein Gemälde hängen hat, das von unserem Gastwirt hier angefertigt wurde. Es zeigt die beiden Steine.«
»Was?« Meredith verschluckte sich fast und stellte hastig ihren Sherry ab, um nichts zu verschütten. Ein oder zwei Köpfe drehten sich neugierig in ihre Richtung.
»Er schien nicht besonders begierig, mir dieses Bild zu zeigen. Er hat sich fast gesträubt. Vielleicht dachte er aber auch nur, dass ich ihn mit meinem Besuch schon lange genug aufgehalten hätte. Er hat erzählt, er wäre mit Mervyn Pollard zusammen zur Schule gegangen und Pollard wäre schon als Kind künstlerisch sehr begabt gewesen. Ich glaube nicht, dass dies unbedingt deine Theorie bestätigt.« Markby nahm die Speisekarte in die Hand, die eingeklemmt in einen Plastikhalter auf dem Tisch stand.
»Die Spezialität des Tages ist diesmal Hühnerpastete mit Pilzen und Pommes frites oder Salat. Was ist denn aus Mervyns exotischer Küche geworden?«
»Mervyn hat einen Tag mit normalem Essen, Gott sei Dank! Ich nehme Salat, bitte. Glaubst du die Geschichte? Dass Pollard zur Brauerei gefahren ist, meine ich?«
»Woher soll ich das wissen? Das Mädchen hinter der Bar hat es gesagt. Vielleicht schläft er sich die durchfeierte Nacht im Mondlicht aus den Knochen. Aber warum soll er nicht geschäftlich unterwegs sein? Wir wissen schließlich nicht mit Bestimmtheit, dass der Mann gestern Nacht Pollard gewesen ist.«
»Doch, ich weiß es«, widersprach Meredith.
»Wynne und ich waren heute Morgen noch einmal dort.« Markby legte die Speisekarte nieder und gab ein ärgerliches Schnauben von sich.
»Ich wünschte, du hättest mir vorher gesagt, was du vorhast. Ich hätte dich gebeten, es nicht zu tun!«
»Was kann es denn schaden? Die Polizei war übrigens auch dort und hat nachgesehen, aber ich glaube nicht, dass sie etwas herausgefunden hat. Wenigstens hat Sir Basil sie aufgerüttelt. Oh, und Wynne und ich haben den versteckten Parkplatz der Hexentänzer gefunden. Es gibt ein kleines Gehöft ganz in der Nähe, die Lower Edge Farm, gerade mal vierhundert Meter entfernt. Der Farmer weiß mehr, als er zuzugeben bereit ist. Ein mürrischer Bursche.«
»Wer wäre das nicht?«, entgegnete Markby.
»Wenn zwei unbekannte Frauen aus heiterem Himmel auftauchen und ihn mit Fragen durchlöchern?«
»Aber wir haben ein Problem gelöst. Ich habe gerätselt, wo die Wagen stehen könnten. Sie mussten ein Transportmittel haben, um zu dem Monument zu kommen!«
»Zerbrich dir für eine Weile den Kopf über den Inhalt von Mervyns Hühnerpastete, in Ordnung?«
Nach dem Essen begleitete sie Markby vom Pub bis zum Tor von The Abbot’s House.
»Wir treffen uns hier wieder, wenn du mit deiner Unterhaltung fertig bist«, sagte Meredith.
»Ich vertreibe mir die Zeit drüben in den Gärten von Rookery House … das heißt keinesfalls«, fügte sie hastig hinzu, »dass ich meine Meinung geändert hätte!« Ihr war nicht entgangen, wie sich seine Miene bei der Erwähnung von Rookery House aufgehellt hatte.
»Selbstverständlich nicht«, beeilte er sich zu sagen.
»Geh nur und sieh dich ein wenig um. Ich komme später nach; ich glaube nicht, dass es länger dauern wird. Ich bezweifle, dass Doc Burnett mir viel zu sagen hat – er ist gewarnt und wird sich inzwischen zurechtgelegt haben, was er mir an Informationen geben kann, ohne dass es für ihn Konsequenzen hat.« In seiner Stimme schwang deutlicher Missmut.
Meredith sah ihm in die Augen.
»Du glaubst, dass Crombie sich bei ihm gemeldet und den Inhalt seiner Unterhaltung mit dir weitergegeben hat?«
»Darauf kannst du deine Stiefel verwetten!«, schimpfte Markby düster. Meredith sah ihm hinterher, als er den Weg zum Eingang hinaufwanderte und die Hand zur Klingel hob. Sie wandte sich ab und drückte das unverschlossene Gittertor auf, das auf das Grundstück von Rookery House führte. Wer hatte dieses Haus geerbt? Wem gehörte es jetzt? Wynne hatte erzählt, dass Olivia Smeaton alles einer oder mehreren wohltätigen Einrichtungen hinterlassen hatte, mit Ausnahme der kleinen Geldvermächtnisse. Daher waren Wohlfahrtseinrichtungen die Nutznießer des Verkaufs. Doch welche? Hatte Olivia eine spezifische Einrichtung genannt? Oder war das den Anwälten überlassen, sollten die Anwälte zwischen verschiedenen wohltätigen Organisationen wählen? Vielleicht war es Olivia als gute Idee erschienen – andererseits hatte sie sicherlich gewusst, dass ein Testament umso besser war, je spezifischer der Verfasser sich äußerte. Es konnte eine ganze Menge würdeloses Gezänk verhindern. Jemand war im Haus gewesen und hatte die oberen Fensterläden geöffnet. Meredith nahm an, dass es Janine gewesen war, die das Haus gelüftet hatte. Meredith entdeckte keinen Hinweis, dass Olivia Smeatons frühere Haushälterin immer noch da war. Vielleicht hatte sie vor, am Abend zurückzukehren und die Läden wieder zu schließen. Janine Catto, Max Crombie und die beiden Berrys taten ihr Bestes, doch das Haus würde unweigerlich verfallen, wenn sich nicht bald ein Käufer fand. Langsam umrundete Meredith das Haus und wanderte zwischen einstigen Blumenbeeten und Rasen hindurch. Direkt am Haus waren die Beete mit einjährigen Blumen bepflanzt. Vielleicht hatte Olivia sie selbst gesät und sich trotz ihrer Schwäche gärtnerisch betätigt? Oder vielleicht hatte sie auch nur einen der Berrys angeleitet. Es gab mehrere Dinge hier draußen, die Meredith an die Berrys erinnerten. Beispielsweise die Stelle, wo der Junge die Leiter an die Hauswand gelehnt hatte, um nach oben zu klettern, und Meredith einen Heidenschreck eingejagt hatte, als er vor dem Fenster aufgetaucht war. Sie stellte sich den unglückseligen, armen Burschen vor, wie sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, vor dem Seiteneingang des Pubs, die Hände tief in den Hosentaschen, die Schultern defensiv nach vorn gezogen in seinem schlecht sitzenden Pullover, als er sich nach Ernie erkundigt hatte. Wo steckte Ernie Berry? Seit zwei Tagen schien ihn niemand gesehen zu haben. Es schien unwahrscheinlich, dass selbst eine leidenschaftliche Affäre ihn so lange aus dem normalen Verkehr zu ziehen vermochte – ganz bestimmt nicht, wenn Arbeit auf ihn wartete, bezahlte Arbeit. Ernie war vom guten Willen eines Mannes wie Crombie abhängig, der ihn ständig mit genügend Jobs versorgte. Der Bauunternehmer konnte Ernie nicht nur die Aufträge wegnehmen, sondern ihn auch restlos ruinieren. Die bloße Andeutung, dass Ernie unzuverlässig war, mehr brauchte es dazu nicht. Meredith nahm auf einem Gartenstuhl Platz, der einstmals grün gewesen war, doch die Farbe war längst verblasst und hatte angefangen abzublättern. Die Sonne war warm und die Stelle vor Wind geschützt. Meredith schloss die Augen und hob das Gesicht in die Sonne. Es war hübsch hier, sehr hübsch sogar, doch sie konnte nicht hier leben. Es gab Träume, und es gab die Wirklichkeit. Alans Träume und ihre praktische, nüchterne Art prallten über dieser Geschichte zusammen, wie es auch schon früher geschehen war. Hatte sie schon immer so beklagenswert empfindlich reagiert? Nein, nicht immer, sinnierte Meredith und dachte an eine lang vergangene, unkluge Liebesaffäre zurück, die beinahe ihr Leben zerstört hatte. Lange bevor Alan auf der Bildfläche erschienen war. Sie öffnete die Augen. Eine schwache Brise hatte den Weg in den geschützten Winkel gefunden und spielte in ihrem Haar. Plötzlich hatte Meredith keine Lust mehr, länger sitzen zu bleiben. Sie fühlte sich wie ein Eindringling. Sie hatte kein Recht, hier zu sein. Sie war keine Kaufinteressentin, sie hatte nur so getan als ob, und nun drang sie in den Garten ein, als sei es ein öffentlicher Park. Olivia Smeaton hätte dies überhaupt nicht gefallen. Meredith erhob sich von ihrem Platz und kehrte auf dem gleichen Weg zum Tor zurück, auf dem sie gekommen war. Sie blickte den Kiesweg hinunter zum Tor und sah, dass die Straße dahinter verlassen dalag. Wie es schien, war Alan noch immer in The Abbot’s House und redete mit dem Arzt. Sie verspürte keine Lust, zu ihrem sonnigen Sitzplatz zurückzukehren, und wandte sich in Richtung des ummauerten kleineren Küchengartens. Dort drinnen war es definitiv heiß. Die Hitze fing sich zwischen den alten, bröckelnden Mauern, und die Luft war drückend. Meredith wanderte durch den Garten zu dem Tor in der rückwärtigen Mauer, das hinaus auf die Koppel und das offene Land dahinter führte, und mit ein wenig Glück erwartete sie dort eine kühlende Brise. Doch der Hitzeschleier hing über der verlassenen Koppel. Es war erstickend heiß. Die Hecken in der Ferne flirrten, und der alte Kastanienbaum auf dem Hügel warf nur einen kleinen Schatten. Die Sonne stand immer noch viel zu hoch am Himmel. Und doch hatte sich jemand in den Schatten des Baums gesetzt. Meredith konnte nicht erkennen, wer es war, weil er ihr den Rücken zuwandte und der Stamm einen großen Teil von ihm verbarg, doch sie sah ein ausgestrecktes Bein und einen Arm – einen nackten Arm, der bewegungslos herabhing, die Finger im Gras. Meredith wollte sich abwenden, als etwas Unerwartetes geschah. Flügelflattern klang auf, und eine schwarze Krähe erhob sich, wie es aussah, aus dem Schoß des Mannes und flog alarmiert krächzend hinauf in die Zweige. Fast im gleichen Augenblick folgte ihr eine zweite. Meredith rann der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinab, und ein Gefühl der Unruhe stieg in ihr auf. Irgendetwas stimmte dort nicht. Die Krähen mochten ja vom Baum heruntergeflogen sein, weil sie glaubten, dass der Mann schlief, doch Krähen waren scheue Vögel. Ganz bestimmt nicht wären sie im Schoß des Mannes gelandet. Es sei denn natürlich … Aasfresser. Krähen waren Aasfresser. Nein, sagte sich Meredith. Das ist lächerlich. Oder doch nicht? Der Mann hatte sich immer noch nicht gerührt. Entweder er schlief, oder er war krank. Sie zwang sich, weiterzugehen und sich dem Baum zu nähern. Der nackte Arm war mit dunklen Haaren bedeckt und sehr muskulös. Das Bein steckte in einer Arbeitshose. Ein merkwürdiges Summen hing in der Luft, wie von einem großen Insektenschwarm. Der Arm und das Bein – das musste Ernie Berry sein. Aber es konnte unmöglich Berry sein – falls er nicht bereits seit zwei Tagen hier saß. Meredith zögerte, während sie sich ein Herz fasste und ihren natürlichen Widerwillen und ihre aufkeimende Angst zu überwinden versuchte. Dann umrundete sie den Baum, um die sitzende Gestalt in Augenschein zu nehmen. Urplötzlich stieg eine schwarze Wolke von Fliegen von Ernie Berrys Oberkörper auf und schwirrte wütend über seinem …
»O mein Gott …«, flüsterte Meredith. Nicht über seinem Kopf, denn Ernie Berry besaß keinen Kopf mehr. Er saß dort in seinen Stiefeln, seiner Arbeitshose, seinem schmutzigen ärmellosen Unterhemd, das noch schmutziger war als gewöhnlich vom schwarzen, verkrusteten Blut, das aus den Halsschlagadern gelaufen und auf dem Stoff geronnen war. Seine muskulösen Arme und breiten, haarigen Schultern … doch wo sein Kopf sein sollte, war nichts mehr außer dunklem, glänzendem Fleisch und Knochen und Sehnen und ein paar hartnäckigen Schmeißfliegen, die unverzagt über das verwesende Fleisch krochen, während der restliche Schwarm weiter wütend kreiste und Wespen wie Kampfflugzeuge herabstießen, die ihr Ziel unermüdlich wieder und wieder attackierten. Meredith wandte sich zur Seite und übergab sich heftig. Hühnchenpastete und Salat spritzten auf die Wiese. Und im Zentrum jenes Tals, unter einem Felsen, liegen der Kopf und das Gesicht eines leibhaftigen Teufels, dessen bloßer Anblick dem Betrachter Angst und Entsetzen einflößt … Sir John Maundeville
KAPITEL 14
MRS BURNETT öffnete mit einem Plastiklätzchen in der Hand die Tür. Als sie Markby erblickte, rief sie gehetzt:
»Oh, Sie … gehen Sie durch …«, und überließ es ihm, den Weg allein zu finden.
Das Innere des Hauses roch noch stärker als zuvor nach gekochtem Gemüse – offensichtlich war das Mittagessen vorüber. Markby folgte der Richtung von Mrs Burnetts ausgestrecktem Zeigefinger und seinen Instinkten und fand das Wohnzimmer, wo ihm Dr. Burnett bereits über den ausgetretenen Teppich entgegenkam und eine breite Hand ausgestreckt hielt.
»Meine Frau hat mich informiert, dass Sie kommen würden«, sagte er.
»Nehmen Sie doch bitte Platz. Worum geht es denn überhaupt?«
Er gehörte zu jener munteren Sorte Männer, die stets den Eindruck erwecken, sich allerbester Gesundheit und frohen Mutes zu erfreuen, selbst wenn es einmal anders ist, und deren Alter sich nur schwer bestimmen lässt. Sein jugendliches, volles Gesicht und seine gutmütigen Züge zusammen mit seiner Spontaneität erzeugten den Eindruck von Jungenhaftigkeit. Markby schätzte den Arzt ein wenig älter, als der erste Augenschein vermuten ließ, vielleicht ein Dutzend Jahre oder mehr älter als seine Frau, also etwa Mitte bis Ende dreißig. Nach Markbys Erfahrung gehörte er zu der Sorte von Ärzten, die bei gewissen älteren Damen beliebt waren, weil sie in ihm einen Ersatzsohn oder einen Enkel sahen.
In seiner Laufbahn als Polizist war Markby mehr als einmal damit konfrontiert gewesen, dass diese Tatsache sich als bedeutsam erwiesen hatte. Der nette junge Arzt oder Anwalt oder Makler, Nachbar oder Finanzberater oder erwachsene Sohn eines Freundes oder Bekannten, der, wie sich im Nachhinein herausgestellt hatte, das ihm entgegengebrachte Vertrauen nicht wert gewesen war. Markby stellte sich kurz vor und erklärte den Zweck seines Besuchs, so gut er konnte.
»Es handelt sich nicht um eine offizielle Ermittlung, verstehen Sie mich nicht falsch, aber irgendjemand ist ein wenig beunruhigt angesichts gewisser Aspekte der jüngsten Geschehnisse. Und da ich vor Ort bin, habe ich mich einverstanden erklärt, ein paar Untersuchungen anzustellen. Personalknappheit, wissen Sie? Ich bin nämlich eigentlich im Urlaub.«
Burnett reagierte auf diese verständnisheischende Aussage genau so, wie Markby es erhofft hatte.
»Das ist wirklich Pech, mein Lieber. Polizist zu sein ist wahrscheinlich nicht viel anders, als wenn man Arzt ist. Mir geht es ganz genau wie Ihnen. Wohin wir auch in Urlaub fahren, sobald wir angekommen sind, erleidet garantiert irgendjemand in unserem Hotel einen Herzanfall oder einen Sonnenstich oder erkrankt ganz schlimm an Durchfall. Bevor man sich’s versieht, klopft der Manager an die Tür und fragt, ob es einem etwas ausmachen würde, einen Blick auf den Kranken zu werfen. Verdammt, natürlich macht es mir etwas aus! Aber so ist das nun einmal, es gehört zum Beruf.« Er kicherte.
Irgendwo im Haus begann ein Kind zu weinen. Markby sinnierte kurz über den krassen Unterschied zwischen dem Erscheinungsbild dieses fröhlichen Jungen hier und dem seiner gehetzten Ehefrau und des heruntergekommenen Wohnzimmers, in dem sie saßen. Soweit Markby wusste, verdienten Ärzte gar nicht schlecht. Gewiss, Burnett besaß eine junge Familie, doch selbst wenn es so war, schien er doch in ungewöhnlich einfachen Umständen zu leben. Entweder gaben die Burnetts eine Menge Geld für andere Dinge aus – vielleicht den Urlaub, auf den Burnett angespielt hatte? Oder vielleicht – eine Möglichkeit, die Markby wegen des großen Altersunterschieds in den Sinn kam und weil er noch kurze Zeit zuvor über seine eigene Situation nachgedacht hatte –, vielleicht war dies nicht Burnetts erste Ehe, und er musste Unterhalt an eine weitere Schar von Kindern und eine Exfrau irgendwo im Land bezahlen.
Ein Mann von Burnetts Sorte, der in Geldnot und der Hausarzt einer älteren, reichen, zurückgezogen lebenden Dame war … hmmm, dachte Markby.
»Wenn ich richtig informiert bin«, sagte er laut, »dann waren Sie der Hausarzt von Olivia Smeaton?« Burnett nickte.
»Ja. Sie war eine meiner wenigen Privatpatientinnen. Ich habe noch ein paar hier in der Gegend. Mrs Smeaton hat viele Jahre im Ausland gelebt und war nicht in der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie zog die private Behandlung vor.«
»So etwas kann kostspielig werden. War Mrs Smeaton kränklich?«
»Herr im Himmel, nein! Sie war fit wie ein Floh – mit Ausnahme der Tatsache, dass sie ein wenig schwach auf den Beinen war. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass wir ihr irgendwann in nächster Zeit ein neues Hüftgelenk würden einsetzen müssen, und hatte mich dazu durchgerungen, mit ihr darüber zu sprechen. Leider ist es nicht mehr dazu gekommen …« Er breitete die Hände aus.
»Sie wurden zum Unfallort hinzugerufen, nicht wahr? Sie waren derjenige, der den Totenschein ausgestellt hat, wenn ich recht informiert bin?«
»Das ist richtig. Janine Catto, Mrs Smeatons Haushälterin, hat sie am Fuß der Treppe gefunden. Sie kam zu mir gerannt und holte mich. Olivia Smeaton war bereits eine Weile tot. Die Totenstarre hatte eingesetzt und war schon wieder im Abklingen begriffen. Wir hatten sie das ganze Wochenende nicht gesehen, doch das war nicht ungewöhnlich. Sie hat das Haus nur selten verlassen.«
»Verzeihen Sie, wenn ich frage, Doktor«, setzte Markby vorsichtig an, »aber haben Sie den Leichnam bewegt, vielleicht um die Tote zu untersuchen?« Burnett errötete und sah Markby entrüstet wie ein beleidigter Gockel an.
»Selbstverständlich nicht! Ich sagte Ihnen doch bereits, dass Sie ohne jeden Zweifel tot war! Schön, ich musste ihren Arm bewegen und ihren Kopf zur Seite drehen, um den Tod zweifelsfrei festzustellen, doch ich habe beides wieder in die gleiche Lage gedreht, so wie ich sie vorgefunden habe.«
»Lag sie auf dem Rücken oder auf dem Bauch?«
»Verdreht, auf der Seite, das eine Bein nach vorn, das andere nach hinten ausgestreckt. Sie hatte einen Pantoffel verloren. Ich sah ihn auf der Treppe liegen, ein paar Stufen höher. Der Teppichläufer war verzogen, und einer der Stäbe in der Geländerbrüstung schien gebrochen zu sein. Ich konnte mir denken, was geschehen war, und ließ alles genau so, wie ich es vorgefunden hatte. Ich sagte Janine, dass sie nichts anfassen soll. Wegen der Beweise für die Gerichtsverhandlung, wissen Sie?«
»In der Tat. Das war ganz genau richtig.« Burnett sah besänftigt aus, doch dabei blieb es nicht lange.
»Wenn ich richtig informiert bin«, fuhr Markby nämlich fort, »dann haben Sie Mrs Smeaton regelmäßige Besuche abgestattet, auch wenn Sie nicht von ihr gerufen wurden, um sich zu überzeugen, dass sie wohlauf war?«
»In der Tat, ja, das habe ich! Wir sind angehalten, das zu tun, wissen Sie? Wir kümmern uns um unsere älteren Patienten, wenn sie alleine und nicht mehr so sicher auf den Beinen sind«, entgegnete Burnett streitlustig.
»Natürlich ist das in einer geschäftigen Praxis mit vielen Patienten nicht immer möglich. Ein Tag hat nur vierundzwanzig Stunden, und wie Sie eben selbst festgestellt haben, ist es eine Frage von ausreichend Personal. Man kann nicht überall sein. Olivia hingegen war zufällig eine Nachbarin, und so fiel es mir in der Regel nicht schwer, auf dem Weg nach Hause oder zu einem Kranken kurz bei ihr vorbeizuschauen. Meine Praxis ist nicht hier. Wir sind drüben im Medizinischen Zentrum in der Stadt.« So viel also dazu, dachte Markby, einen Arzt im Dorf zu haben. Wenn man ihn braucht, muss man trotzdem noch in die nächste Stadt fahren. Das nennt sich dann Fortschritt. Laut sagte er:
»Es muss für Mrs Smeaton ein sehr beruhigendes Gefühl gewesen sein, dass Sie sich regelmäßig um ihr Wohlergehen bemüht haben.« Burnett nickte und sah Markby freundlich an.
»Ich denke, sie hat es zu schätzen gewusst, ja.« Zu spät erkannte er, dass er sich in etwas hineingeritten hatte. Markby sah, wie er sich fast auf die Zunge biss, noch während er die letzten Silben aussprach, doch es war zu spät, und so spuckte er sie förmlich aus. Das pralle, jugendliche Gesicht wurde rot, die Contenance war dahin, und Burnett starrte seinen Besucher trotzig an.
»Offensichtlich war sie dankbar, denn sie hat Ihnen ja eine gewisse Summe in ihrem Testament hinterlassen, wenn ich recht informiert bin …«, sagte Markby und erwiderte den Blick mit erhobenen Augenbrauen.
»Sie sind verdammt gut informiert!«, schnappte Burnett.
»Ja, sie hat mir etwas vermacht! Aber es war kein Vermögen, bestimmt nicht! Sie hat mir tausend Pfund vermacht und eine alte Reiseuhr, wenn Sie es genau wissen wollen! Diese kleine Uhr dort drüben!« Er deutete auf das kleine Gerät auf einem Regal. Markby bewunderte es und sagte, es wäre doch ein netter Zug von der alten Dame gewesen und ob Olivia gewusst hätte, dass ihm die Uhr gefiel?
»Vermutlich, ja. Ich glaube, ich habe es einmal erwähnt«, entgegnete Burnett zögernd.
»Man unterhält sich eben … und mit alten Damen ist das nicht immer so einfach!«
»Hat sie denn nie über sich selbst gesprochen? Über ihre Vergangenheit? Ihre Erfolge als Rallyefahrerin oder die Zeit während des Zweiten Weltkriegs?«
»Nicht ein Wort!«, schnappte Burnett. Das Telefon läutete. Markby hörte, wie Mrs Burnett an den Apparat ging und mit dem Anrufer redete. Im Hintergrund plärrte ein missgelauntes Kleinkind. Burnett rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her.
»Ich bin ein viel beschäftigter Mann, wissen Sie …?«
»Ja. Ich verstehe. Nur noch zwei Fragen, wenn Sie nichts dagegen haben.« Burnett sah ganz danach aus, als hätte er. Er funkelte seinen Besucher an.
»Aber machen Sie es kurz, wenn möglich, ja?«
»Ich tue mein Bestes. Ich denke, der Tierarzt Rory Armitage war sehr besorgt über die Auswirkungen, die der Tod des Ponys auf Mrs Smeaton haben könnte. Ich denke außerdem, dass er der Meinung war, das Tier würde an Altersschwäche sterben, bevor er erkannte, dass es sich um eine Vergiftung handelte. Er hat mir berichtet, dass er mit Ihnen darüber gesprochen hat und dass Sie überlegt haben, wie Sie der alten Dame die traurige Nachricht schonend beibringen könnten, als das Pony starb.«
»Ja. Das ist richtig!« Burnett gewann wieder an Selbstvertrauen.
»Aber Sie sind nicht«, fuhr Markby freundlich fort, »am Wochenende nach der Beerdigung von Olivia Smeatons Pony über die Straße zu der alten Dame gegangen, um nachzusehen, wie es ihr geht? Das wäre doch wohl ein geeigneter Zeitpunkt für einen Besuch gewesen, meinen Sie nicht?« Burnett starrte Markby wie betäubt an. Dann lief er dunkelrot an, und seine Augen glitzerten vor Zorn. Er packte die Armlehnen seines Sessels und beugte sich kampflustig vor.
»Olivia war nicht die einzige Patientin in meiner Kartei, wissen Sie? Ja, ich hätte rübergehen und nachsehen können, und ich hätte es ganz bestimmt auch getan, wenn ich die Zeit gefunden hätte! Aber wie es der Zufall wollte, hatte ich an diesem Wochenende Notdienst. Rufbereitschaft. Zwei Notfälle ereigneten sich, einer am Samstag und einer am Sonntag. Wir haben eine ländliche Praxis, und beide Anrufe kamen von weit außerhalb. Sie können das gerne überprüfen, wenn Sie möchten! Ich verschob mein Vorhaben, Olivia zu besuchen, auf den Montag, doch da war sie bereits tot, und Janine Catto hatte sie am Fuß ihrer Treppe gefunden. Wäre meine Frau nicht so mit den Kindern beschäftigt gewesen, wäre sie vielleicht kurz mal rübergegangen, um nach Olivia zu sehen. Aber sie hatte niemanden, der auf die Kinder aufgepasst hätte, und Olivia war nicht gerade die Sorte Mensch, die Babys mochte!« Wie auf ein Zeichen hin klopfte Mrs Burnett an der Tür und steckte ihr abgehetztes Gesicht durch den Spalt.
»Tut mir Leid, wenn ich stören muss, aber Rory Armitage ist am Telefon, Tom. Gill ist krank geworden. Kannst du zu ihnen fahren, jetzt gleich?« Burnett klammerte sich unübersehbar an die Worte seiner Frau wie ein Ertrinkender an eine Rettungsleine.
»Sicher, sag ihm, ich bin schon auf dem Weg!« Er sprang auf.
»Nun, Sie sehen ja, wie das ist, Superintendent. War nett, sich mit Ihnen zu unterhalten.« Er streckte Markby die Hand hin. Markby fand kaum Zeit, sie zu schütteln, bevor ihr Besitzer fluchtartig den Raum verließ.
Während Alan Markby zum zweiten Mal an diesem Tag die Türglocke von The Abbot’s House betätigte, hatte sich Rory Armitage, der die ganze Nacht auf den Beinen gewesen war, um bei der Geburt zweier Kälber zu helfen, zu einem kurzen Nickerchen in dem abgewetzten Ledersessel niedergelassen, der
»sein Eigentum« war und bisher sämtlichen Versuchen von Rorys Frau Gill widerstanden hatte, das schäbige Möbel zu entsorgen.
Er streckte die langen Beine aus, verschränkte die Hände über dem Bauch und sinnierte, dass er wohl allmählich alt wurde. Er war jetzt vierundvierzig. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als es ihm nicht das Geringste ausgemacht hatte, wenn er um drei Uhr morgens aus dem warmen Bett gerissen worden war, um den Rest der Nacht in einem stinkenden Kuhstall oder einer Scheune zu verbringen. Er war nach Hause gekommen, hatte geduscht, ein herzhaftes Frühstück zu sich genommen und den Tag frisch und munter angegangen. Das hatte sich geändert, und es war nicht das Einzige. Er sagte sich zwar, dass dieses ungewohnte Gefühl von Depression eine bisher nicht abgeklungene Folge des hinterhältigen Anschlags gegen seinen Wagen war, der ihn immer noch fassungslos machte. Wen hätte so etwas nicht mitgenommen? Und jetzt, als wäre das nicht schon genug, hatte er auch noch diesen Polizisten auf Urlaub am Hals, der offensichtlich entschlossen war, das ganze Dorf mit seinen entschieden neugierigen und beunruhigenden Fragen aufzurühren.
»Es ist ja nicht so«, murmelte Rory schläfrig vor sich hin, »als gäbe es einen Grund zu der Annahme, dass er etwas findet. Ich wünschte, er würde herausfinden, wer meinen Wagen so zugerichtet hat! Aber das tut er bestimmt nicht. Ich weiß überhaupt nicht, wofür ich meine vielen Steuern zahle!«
Wie manch andere wahre Briten empfand auch Armitage eine obskure Befriedigung daran, über diesen weiteren Beweis von Geldverschwendung seitens der Behörden und des Staates zu murren, und dieses Gefühl begleitete ihn in den Schlaf.
Er wurde von einem, wie er es später beschrieb, »unglaublichen Schrei« aus seinem seligen Schlummer gerissen. Er richtete sich auf, packte die Armlehnen seines Sessels und brummte:
»Was ist denn los?« Der Schrei erklang erneut. Er kam von draußen, aus dem Garten hinter dem Haus, diesmal gefolgt vom Geräusch stampfender, rennender Schritte, die sich dem Haus näherten. Rory mühte sich aus seinem Sessel und stürzte zu den französischen Fenstern, die einen ungehinderten Blick auf den Garten ermöglichten. Seine Frau kam ihm entgegengerannt, die Augen weit aufgerissen, der Mund offen, das Gesicht weiß. Sie hatte beide Arme erhoben. Rory stieß die Verandatür auf und brüllte:
»Was zur Hölle ist denn los? Du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet!« Sie rannte ihm entgegen und warf sich stolpernd in seine Arme. Sie schluchzte und rang ächzend nach Atem und war unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen. Er zog sie ins Wohnzimmer und setzte sie in den frei gewordenen Sessel. Dort saß sie, rollte unentwegt die Augen und bewegte lautlos den Mund. Armitage begann sich ernsthaft zu sorgen.
»Gill? Halte durch, Liebes, ich hole dir ein Glas Wasser!« Sie stieß einen weiteren unartikulierten Schrei aus und packte sein Handgelenk mit der Kraft eines Schraubstocks.
»Nein!«, kreischte sie.
»Geh nicht weg!« Er befreite sich vorsichtig aus ihrem Griff.
»Um Himmels willen, Gill, was ist denn?« Sie schluckte und versuchte zu erklären, doch sie brachte nur ein
»Es ist draußen im …« heraus, bevor sie erneut von Hysterie übermannt wurde und hemmungslos zu schluchzen anfing, während sie sich im Sessel hin und her warf, als hätte sie einen epileptischen Anfall.
»Mein Gott!«, murmelte Armitage.
»Hör zu, beruhige dich, Liebling. Ich rufe Tom Burnett an und bitte ihn, so schnell wie möglich vorbeizukommen!« Schließlich war er selbst nur Tierarzt. Er hatte hin und wieder mit durchdrehenden Pferden zu tun, doch durchdrehende Frauen waren nichts, womit er sich auskannte.
»Es ist wegen Gill!«, begrüßte er Burnett, als der Arzt läutete.
»Tut mir Leid, wenn ich Sie aus der Mittagspause reiße, aber ich habe Gill noch nie so gesehen! Ich kriege kein vernünftiges Wort aus ihr heraus!«
»Macht nichts«, versicherte ihm Burnett.
»Ich hatte einen Polizisten im Haus, der eine ganze Menge unverschämter Fragen gestellt hat! Ich hatte gehofft, dass jemand anrufen und nach mir verlangen würde! War er auch schon bei Ihnen? Er war bei Max Crombie. Max hat angerufen und mich gewarnt, dass ich vielleicht unangenehmen Besuch kriegen würde. Weiß Gott, was in diesem Dorf in letzter Zeit vorgeht! Alle scheinen übergeschnappt zu sein! Oh, ’tschuldigung, ich wollte Sie nicht … wo ist Gill?«
Gill Armitage lag zusammengesunken im Sessel. Sie hatte aufgehört zu schreien und schluchzte nun still in ein durchgeweichtes Taschentuch, während sie sich immer noch von einer Seite zur anderen wiegte. Als Burnett sich über sie beugte, stieß sie einen leisen Schrei aus und duckte sich zusammen, als hätte sie Angst vor ihm.
»Ganz ruhig, Gill, ich bin es, Tom Burnett«, sagte er in professionellem, beruhigendem Ton.
»Was fehlt Ihnen denn? Was hat das zu bedeuten, hm?«
Sie blickte zu ihm auf, und langsam schwand die Panik aus ihrem Gesicht, als sie ihn erkannte. Ihre Finger waren in das nasse Taschentuch verkrallt.
»Oh, Tom … wo ist Rory?«
»Hier, Liebes«, sagte ihr Mann.
Ihr Mund arbeitete lautlos, dann flüsterte sie fast unhörbar:
»Hast du es gefunden?« Burnett warf dem Tierarzt einen Seitenblick zu.
»Wissen Sie, wovon sie redet?«
»Keine Ahnung, Doc. Sie ist aus dem Garten gekommen und hat Zeter und Mordio geschrien und sich benommen, als wäre sie vollkommen übergeschnappt.«
»Hmmm … Sie hat ganz offensichtlich einen schlimmen Schock erlitten. Irgendetwas hat sie furchtbar verängstigt.« Burnett beugte sich erneut über seine Patientin.
»Jetzt ist alles wieder in Ordnung, Gill. Wir kümmern uns darum, was auch immer es ist. Hören Sie, ich werde Ihnen jetzt eine Beruhigungsspritze geben, damit Sie eine Weile schlafen können …« Ihre Hand schoss vor und packte den verblüfften Arzt am Revers.
»Nein! Sie müssen die Polizei anrufen!«
»O Gott!«, stöhnte Armitage leise auf.
»Nicht schon wieder!«
»Die Polizei?« Burnett hob die Augenbrauen.
»Ich hab gerade eben erst einen von den Kerlen in meinem Haus zurückgelassen, Gill.«
»Nun, dann gehen Sie zurück und holen Sie ihn!«, brüllte sie dem Arzt mit solcher Vehemenz ins Gesicht, dass Burnett zurückzuckte.
»Warten Sie«, sagte Rory Armitage.
»Lassen Sie mich mit ihr reden.« Er schob den Doktor sanft zur Seite.
»Gill, haben die Vandalen schon wieder zugeschlagen? Ist es draußen im Garten …?« Sie stieß einen durchdringenden Schrei aus, und Armitage hielt sich die Ohren zu.
»Ich denke«, sagte Burnett, »wir können davon ausgehen, dass es irgendetwas im Garten sein muss.« Draußen auf dem Kiesweg knirschten Reifen. Armitage warf einen Blick aus dem Fenster.
»Das ist Polly«, sagte er.
»Polly Desmond, meine Assistentin. Das nenne ich wirklich Glück.« Er ging zur Tür, um ihr zu öffnen, und Burnett hörte ihn reden. Als er zurück ins Zimmer kam, wurde er von einer energischen jungen Frau begleitet. Sie besaß lange blonde Haare, die zu einem Zopf geflochten waren. Bei ihrem Anblick fing Gill Armitage an zu weinen.
»Oh, Polly! Es war so grauenhaft … Ich habe etwas … etwas wirklich Furchtbares gesehen!«
»Was denn?« Polly kniete sich neben Gill auf den Boden und nahm ihre Hand, doch bei der neuerlichen Erinnerung war Mrs Armitage wieder in ihren Schockzustand gefallen und schüttelte nur wortlos den Kopf.
»Es müsste in Ordnung sein, wenn wir sie hier ein paar Minuten mit Polly alleine lassen«, sagte Burnett leise.
»Was halten Sie davon, wenn wir beide nach draußen gehen und uns umsehen? Vielleicht kommen wir dadurch dem Geheimnis auf die Spur?«
»Die Rosen …«, krächzte Gill Armitage weinend und packte Pollys Hand so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Kommen Sie, Tom«, sagte Armitage zu dem Arzt.
»Hier entlang.« Er führte Burnett durch die Verandatür nach draußen über den Rasen.
»Der Garten hat dieses Jahr wirklich stark gelitten«, stellte er fest.
»Gill hat nur die Rosen regelmäßig gegossen. Sie ist eine fleißige Gärtnerin, wissen Sie? Ihre Rosen waren immer ihr ganzer Stolz und ihre Freude. Sie hat einen richtigen kleinen Rosengarten dort drüben …« Er deutete auf ein großes rundes Bett voller Rosenstöcke. Sie näherten sich vorsichtig.
»Sie scheint jedenfalls von hier gekommen zu sein, wie es aussieht …« Burnett deutete auf ein paar abgebrochene Stängel und am Boden liegende orangefarbene Blütenblätter unter einem hübschen großen Busch. Daneben, auf einem Stück frisch umgegrabener Erde, lagen achtlos eine kleine Pflanzkelle und eine Rosenschere.
»Passen Sie auf die Dornen auf«, warnte Armitage den Arzt, während er sich vorsichtig zwischen den Büschen hindurch einen Weg zu der Stelle bahnte und den Boden nach der Ursache für den Zustand absuchte, in dem sich seine Frau befand. Abrupt blieb er stehen und stieß einen leisen Fluch aus.
»Du heiliger …!«
»Was ist denn?« Burnett wollte sich neben ihn schieben, um etwas zu sehen, doch es war zu eng, und er manövrierte sich um einen blühenden Peacebusch herum. Sie befanden sich mitten im Beet, wo eine große Standardrose blühte, eine dunkelrote Alex. Am Fuß der Pflanze lag das Ding, der Grund für Gill Armitages hysterischen Anfall. Armitage hatte Burnetts Frage noch nicht beantwortet. Er deutete nur mit zitternder Hand auf das Objekt.
»Herr im Himmel …!«, ächzte Burnett.
»So etwas habe ich seit … seit meiner Anatomievorlesung nicht mehr gesehen!« Mit leiser, unnatürlich ruhiger Stimme sagte Armitage:
»Das ist Ernie Berry, oder?« Sein Berufskollege neben ihm zeigte bewundernswürdige Kaltblütigkeit angesichts der Umstände.
»Ja«, antwortete er.
»Allerdings nur sein Kopf.« Voller Bestürzung blickte sich Rory Armitage wild suchend im Garten um.
»Und wo zur Hölle ist der Rest von ihm?«
Genau in diesem Augenblick stolperte Meredith benommen aus dem Tor von Rookery House in Markbys Arme und stammelte die Antwort auf diese Frage. Ich habe häufig über den Tod nachgedacht, und ich finde, er ist der geringste aller Schrecken.
Francis Bacon
KAPITEL 15
»WIE GEHT es ihr?«, fragte Wynne.
Sie trug immer noch die gleichen Sachen wie am Morgen, weite Hosen und einen noch weiteren selbst gestrickten kanariengelben Pullover und stand besorgt abwartend vor der Tür. In der Hand hielt sie eine Flasche selbst gemachten Holunderlikör.
Markby trat zur Seite und bat sie herein.
»Im Augenblick ist sie sehr britisch und zugeknöpft. Sie hält sich großartig. Die Panik ist ein wenig abgeklungen. Jetzt ist sie abwesend. Der Schock kommt erst noch. Sie ist im Wohnzimmer – gehen Sie nur durch.«
»Meine Liebe!«, rief Wynne, als sie ins Wohnzimmer stürzte und sich neben Meredith auf das Sofa setzte.
»Wie fühlen Sie sich? Sie sehen ganz blass aus! Was für ein furchtbares Erlebnis!« Sie hielt Meredith die Flasche mit dem Holunderlikör hin.
»Das hier wird Ihnen sicherlich ein wenig helfen!«
Meredith nahm das Angebot dankend an.
»Es war schlimm, aber Alan hat mich mit so viel Brandy abgefüllt, dass ich damit zurechtkomme. Außerdem denke ich, dass ich nicht die Einzige bin, die einen hässlichen Schock erlitten hat. Der … der Rest von Ernie Berry wurde woanders gefunden.«
Meredith verspürte eine gewisse Abneigung gegen das Wort
»Kopf«. Es beschwor das unerträglich grausame Bild des enthaupteten Leichnams unter dem Kastanienbaum herauf, mit dem schwarzen Schwarm von Insekten, die den verklebten Stumpf zwischen den Schultern bearbeiteten. Sie stellte die Flasche Holunderlikör auf einen Beistelltisch und wiederholte:
»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, Wynne.«
»In Rorys Garten, man stelle sich das nur vor!« Wynne gluckste vor nicht ganz aufrichtiger Empörung, denn das Leuchten in ihren Augen verriet die lebenslange Gewohnheit der Jagd nach einer fetten Schlagzeile. Man musste Wynne zugute halten, dass sie sichtlich gegen diesen Instinkt ankämpfte. Fast gelang es ihr, ihn zu unterdrücken.
»Die arme Gill fand ihn in ihrem Rosenbeet und hatte einen hysterischen Anfall, wie ich gehört habe! Sie hingegen scheinen es mit großer Fassung zu ertragen, Meredith.« Wynne nickte anerkennend.
»Ich habe schon früher Leichen gesehen«, erklärte Meredith und schnitt eine Grimasse.
»Damit meine ich Menschen, die nicht friedlich in ihrem Bett gestorben sind. Unfallopfer auf der Straße und andere grässlich verstümmelte Tote. Es ist nur so, dass ich einfach nicht damit gerechnet habe, einen Enthaupteten unter dem Baum auf Olivias Koppel zu finden.«
Sie bemühte sich, leidenschaftslos dreinzublicken.
»Ich weiß nicht, wie lange er schon dort gesessen hat. Andererseits denke ich, wer auch immer den Toten dort zurückgelassen hat, rechnete nicht damit, dass er so schnell gefunden würde. Wer hätte einen Grund gehabt, die leere Koppel zu betreten? Wohingegen der … der Kopf …« Meredith sprach das Wort mit Entschiedenheit aus.
»Der Kopf ist in Mrs Armitages Rosenbeet aufgetaucht, und die Person, die ihn dort hingelegt hat, musste damit rechnen, dass er bald gefunden würde.«
»Oh, meine Liebe!«, sagte Wynne und pflückte geistesabwesend Wollfussel von ihrem gelben Pullover.
»Man fragt sich, was als Nächstes geschehen wird!« Sie blickte auf, als Markby ihr ein Glas hinhielt.
»Oh, danke sehr, Alan. Ich muss sagen, ich kann jetzt wirklich einen Schluck vertragen!«
Sie kippte den Inhalt des Glases mit einem geübten Schwung hinunter und hielt Markby das leere Glas hin. Markby füllte es entgegenkommend nach.
Merediths Blick ruhte auf den leuchtenden Scheiten des elektrischen Kaminfeuers, das Markby extra eingeschaltet hatte, um den Raum zu erwärmen. Trotz der Hitze, die sich inzwischen entwickelt hatte, erschauerte sie und rieb sich die Arme. Sie hatte sich nicht annähernd so gut von ihrem Schrecken erholt, wie sie Alan und Wynne weismachen wollte. Doch es war eine Tatsache, dass sie sich zusammenreißen musste, und zwar schnell. Alan hatte die einheimische Polizei angerufen, und sie war schnell gekommen und hatte ihre vorläufige Aussage zu Protokoll genommen. Es hatte höchste Verwirrung geherrscht, verschlimmert noch durch die Tatsache, dass praktisch zur gleichen Zeit zwei separate Anrufe eingegangen waren: Beim ersten wurde der Fund von Ernie Berrys Leichnam gemeldet, beim zweiten der Fund des Kopfes des Unglückseligen.
Jetzt warteten sie auf das Eintreffen eines Inspectors von der zuständigen Kriminalpolizei. Es war halb sieben. Die Sonne senkte sich dem Horizont entgegen, und die Arbeit fing gerade erst an.
»Ein Inspector Crane hat seinen Besuch angekündigt«, sagte sie.
»Wir warten auf ihn. Er kommt hierher.«
»Kennen Sie ihn, Alan?«, erkundigte sich Wynne.
»Ich fürchte nicht, nein. Ich bin im überregionalen Hauptquartier, wissen Sie? Wir beschäftigen uns in der Regel nicht mit gewöhnlichen Morden, solange wir nicht darum gebeten werden oder solange die Tat nicht mit etwas in Verbindung steht, das wir sowieso untersuchen.« Wynne blickte ihn untröstlich an.
»Also besteht keine Chance, dass Sie mit der Lösung dieses Falls beauftragt werden?«
»Nicht die geringste, würde ich meinen.« Das Telefon draußen im Flur läutete.
»Bitte entschuldigen Sie mich«, murmelte Markby und ging.
»Meine Liebe«, begann Wynne forsch, nachdem er den Raum verlassen hatte, »während Ihrer Zeit im Konsulat hatten Sie häufiger mit Dingen wie Verletzten oder Todesopfern bei Verkehrsunfällen zu tun, wie Sie sagen. Genau wie ich in meiner aktiven Zeit als Journalistin. Sie wissen also genauso gut wie ich, dass man versuchen muss, so weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Es ist wichtig, beispielsweise zu essen und zu trinken, selbst wenn einem überhaupt nicht danach zumute ist. Eine Schale mit Suppe oder ein paar Sandwiches mit Brotaufstrich, irgendetwas. Haben Sie schon etwas gegessen?«
»Ich habe keinen Hunger, Wynne. Ich brauche jetzt noch nichts zu essen. Mein Magen hat sich noch längst nicht beruhigt, und wenn ich jetzt versuche, etwas herunterzuwürgen, müsste ich mich gleich wieder erbrechen! Ich weiß ja, dass ich etwas essen müsste, weil ich hier gesessen und Alkohol getrunken habe. Ich werde ein wenig Suppe zu mir nehmen, wenn dieser Inspector Crane wieder gegangen ist. Ich hoffe nur, dass ich nicht völlig betrunken bin, bis er hier ist. Ich kann ihm nur sagen, dass ich zufällig über die Koppel gegangen bin und Ernie unter dem Baum gefunden habe. Ich habe überhaupt nichts gesehen.« Merediths Stimme brach. Sie legte die Stirn in Falten, schwieg ein paar Sekunden und fuhr dann fort:
»Ich bin ganz sicher, dass ich sonst nichts gesehen habe. Kein Anzeichen, wie lange er schon dort gelegen hat, aber ich glaube nicht, dass es volle zwei Tage waren.« Sie atmete tief durch.
»Sonst hätten Füchse und Ratten ihn gefunden. Ich habe Krähen gesehen, aber sie hatten gerade erst angefangen … ich bin sicher …«
»Soll sich die Polizei doch selbst darüber den Kopf zerbrechen.« Wynne tätschelte Merediths Hand.
»Ich zermartere mir das Gehirn deswegen. Wynne, Sie wissen mehr über das Dorf als wir. Crombie hat zu Alan gesagt, dass Ernie wahrscheinlich deswegen verschwunden wäre, weil er eine neue Freundin gefunden hätte. Gott weiß, es kommt mir vollkommen unglaublich vor, aber vermutlich ist es möglich. Haben Sie irgendwelches Getratsche gehört? Ernies Namen in Verbindung mit einem anderen?« Wynnes Dutt bebte, und die zahllosen Nadeln begannen sich einmal mehr zu lösen und den Gesetzen der Schwerkraft zu folgen.
»Ich wüsste keinen Namen. Ich höre einen Großteil des Klatsches, sicher. Ich weiß, dass Ernie im ersten Augenblick nicht besonders attraktiv erscheinen mag, aber er hatte einen Ruf als ausgesprochener Schürzenjäger. Selbst wenn Ernie sich mit einer neuen Eroberung gebrüstet hätte, dann niemals in Gegenwart einer Frau. Ich schätze, so etwas machen Männer, wenn sie unter sich sind.«
»Und wenn Männer unter sich sind – könnte es dann nicht einem eifersüchtigen Ehemann zu Ohren gekommen sein?«, fragte Meredith weiter.
»Könnte jemand auf Rache aus gewesen sein?« Wynne schob sich die kanariengelben Ärmel hoch, während sie nachdachte.
»Vielleicht. Vielleicht könnte jemand auf den Gedanken kommen, Ernie eine gehörige Abreibung zu verpassen. Das wäre der normale Stil in Parsloe St. John«, sagte sie abschätzend.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand hingehen und ihm den Kopf … Oh, es tut mir so Leid, Liebes …!« Meredith war heftig zusammengezuckt.
»Ich meine …«, fuhr Wynne ein wenig zögerlich fort, »ich meine, es wäre eine sehr bizarre Form der Rache. Falls ein Mörder, motiviert durch Eifersucht, sein Opfer verstümmeln wollte, hätte er sich doch bestimmt, äh … einen anderen Körperteil ausgesucht, meinen Sie nicht? Ich erinnere mich an einen lange zurückliegenden Fall. Damals habe ich noch bei der … aber davon wollen wir jetzt nicht anfangen! Außerdem wissen wir nicht mit Sicherheit, ob Ernie Berry eine neue Freundin hatte. Es war nur so ein Gedanke, der sein Verschwinden hätte erklären können. Und wenn ich in meinem Beruf etwas gelernt habe, dann ist es der Grundsatz, dass man seine Fakten überprüfen muss.«
»Es war immerhin der Gedanke von zwei verschiedenen Personen, die ihn unabhängig voneinander verbreitet haben!«, entgegnete Meredith.
»Mervyn Pollard hat es mir gegenüber erwähnt, und Max Crombie hat mehr oder weniger das Gleiche zu Alan gesagt. Warum sollten sie beide so etwas sagen?«
»Wegen Ernies Ruf, nehme ich an, und ich kann Ihnen versichern, dass das ganze Dorf das Gleiche gedacht hat!«, entgegnete Wynne.
»Sehen Sie sich doch nur all die Frauen an, die nacheinander in seinem Cottage gewohnt haben und … o mein Gott!« Sie starrte Meredith entsetzt an.
»Kevin! Hat schon irgendjemand mit dem armen Jungen geredet?«
»Ich denke, die Polizei hat ihn aufgesucht und es ihm gesagt«, antwortete Meredith leise.
»Er ist schließlich Ernies nächster Verwandter. Das ist er doch, oder nicht?«
»Jedenfalls gibt es niemanden sonst.« Wynne wirkte plötzlich aufgebracht.
»Sie werden den armen Jungen doch wohl nicht bitten, Ernies sterbliche Überreste zu identifizieren, oder? Ich weiß nicht, ob er das verkraften würde!«
»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht könnte Doc Burnett das übernehmen. Er war schließlich dabei, als …« Sag es!, befahl sich Meredith.
»… als man Ernies Kopf im Rosenbeet gefunden hat. Wie dem auch sei, ich bin sicher, sie werden sich bemühen, den Toten … ordentlich aussehen zu lassen, wenn Sie verstehen, was ich meine, bevor jemand anders kommt, um ihn zu identifizieren. Sie werden den Leichnam zum größten Teil mit einem Laken bedecken.«
»Vermutlich haben Sie Recht, ja«, sagte Wynne.
»Trotzdem, vielleicht sollte ich ein paar Worte mit diesem Inspector Crane reden? Ihm erklären, dass Kevin nicht gewohnt ist, irgendeine Art von Verantwortung zu übernehmen? Jemand muss ein Auge auf ihn haben, bis er sich daran gewöhnt hat, allein zu sein. Er musste noch nie ohne Ernie zurechtkommen. Obwohl es stimmt, dass Ernie …« Wynne verstummte und fummelte abwesend an ihrem Chignon. Sie spielte mit den Nadeln, bis sie hervorstanden wie aus der Perücke einer japanischen Geisha.
»Was ist mit Ernie?« Meredith blickte Wynne neugierig an.
»Ach, eigentlich nichts. Nein, ich dachte nur, dass man sagen könnte, Ernie hätte sich nicht besonders um Kevin gekümmert – wenigstens nicht, als er noch ein Kind gewesen ist. Er war immer schmutzig und schlecht angezogen. Es gab niemanden, der sich wirklich um den Jungen bemüht hätte, nachdem seine leibliche Mutter ihn im Stich gelassen hatte und all die anderen Frauen nur vorübergehend in Ernies Haus lebten. Das Haus von Berry ist kein schöner Ort, und ich wundere mich nicht, dass keine der Frauen länger geblieben ist. In jedem Dorf gibt es immer eine Familie, die scheinbar deutlich schlechter funktioniert als alle anderen. In Parsloe St. John waren es die Berrys.«
»Klingt in meinen Ohren wie ein Fall für die Sozialfürsorge. Hat sich denn niemand jemals um das Kind bemüht?«
»O nein.« Wynne blickte ein wenig verlegen drein.
»Auf dem Land mögen es die Leute nicht, wenn andere sich einmischen. Eine Familie mag vielleicht schwach und hilflos sein, aber irgendwie überlebt sie dennoch. Was ich damit sagen möchte ist Folgendes: Ganz gleich, wie brüchig und schlecht das Zuhause war, das Ernie dem jungen Kevin gab – es war ein Zuhause, und jetzt ist Kevin alleine dort. Er ist kein besonders heller Junge. Ernie musste ihm immer sagen, was er zu tun hatte. Kevin hat nie eine eigene Entscheidung treffen müssen.« Alan hatte die ganze Zeit über leise im Hintergrund telefoniert. Jetzt vernahmen die beiden Frauen, wie er den Hörer behutsam auf die Gabel legte. Einen Augenblick später kam er ins Wohnzimmer zurück. Er sah zum einen Teil erleichtert, zum anderen verlegen aus.
»Das war es dann wohl, ich bin raus aus der Angelegenheit. Meine Erkundigungen in Parsloe St. John sind sofort einzustellen, damit ich der Mordkommission bei ihren Ermittlungen nicht in die Quere komme – oder irgendwelche Zeugen verwirre. Tut mir Leid, Wynne.« Er lächelte sie entschuldigend an.
»Keine Sorge, Alan, das ist schon in Ordnung. Ich möchte Ihnen trotzdem danken. Sie haben einen Anfang gemacht, und wenn man Sie hätte weitermachen lassen, hätten Sie ganz bestimmt etwas herausgefunden.« Wynne blickte ihn nachdenklich an.
»Sie haben nicht rein zufällig bereits irgendeine Spur?« Er schüttelte den Kopf.
»Tut mir Leid, nein. Das kann ich beim besten Willen nicht behaupten.«
»Nun gut, daran lässt sich nichts ändern.« Wynne erhob sich von ihrem Platz und zupfte ihren Pullover glatt.
»Ich gehe jetzt besser nach Hause, bevor dieser Inspector Crane eintrifft. Denken Sie daran, ich bin direkt nebenan, also falls Sie etwas brauchen …« Sie dankten ihr, und Wynne ging nach draußen. Sie sah immer noch ganz untröstlich aus.
»Die Ärmste«, sagte Meredith.
»Du hast wirklich nichts gefunden, oder? Keine Spuren?«
»Was? Nein. Nein. Es sei denn, es gibt eine Verbindung zu ihrem Testament, wie du gesagt hast. Sie war eine reiche Person und hatte keine Familie. Irgendjemand hat möglicherweise geglaubt … Andererseits ist es kein Grund, nicht faules Spiel zu vermuten, nur weil sie denen etwas vermacht hat, die sich um sie gekümmert haben. Sie hat Armitage, Burnett und Crombie Geld hinterlassen, beziehungsweise Crombies Tochter. Wie es aussieht, hat Crombie nichts mit der Geschichte zu tun, und Armitage würde ich ebenfalls ausklammern. Burnetts Haus sieht allerdings aus, als wäre der Besitzer völlig pleite, doch der Eindruck kann auch täuschen. Wenn du das nächste Mal mit Wynne plauderst, könntest du dich vielleicht nebenbei erkundigen, ob Burnett schon einmal verheiratet war.« Draußen ertönte das Geräusch eines herannahenden Wagens. Der Motor wurde abgestellt, jemand stieg aus, und dann klopfte es energisch an der Tür.
»Und das dürfte unser guter Inspector Crane sein«, sagte Markby und erhob sich aus dem Sessel, um zu öffnen.
»Mach dich bereit.« Er ging nach draußen, und Meredith bereitete sich innerlich darauf vor, die Geschichte ihrer makabren Entdeckung aufs Neue zu erzählen. Im Flur erklangen Schritte und Alans Stimme, der eine hohe Frauenstimme antwortete – doch wohl nicht Wynne? Sie war eben erst gegangen. Die Tür öffnete sich, und Alan trat ein. Er räusperte sich.
»Meredith, das hier ist Inspector Crane. Sie leitet die Ermittlungen.« Eine große Rothaarige, modisch in einen dunklen Geschäftsanzug mit weißer Bluse und hochhackigen Schuhen gekleidet, betrat das Zimmer und stellte einen Aktenkoffer ab.
»Miss Mitchell? Ich bin Amanda Crane. Wie geht es Ihnen?« Sie streckte Meredith die Hand entgegen. Nach unmerklichem Zögern schlug Meredith ein und bot ihr einen Platz an. Inspector Crane öffnete ihren Aktenkoffer, nahm einen dünnen Hefter hervor, klappte den Koffer wieder zu, schlug die Beine übereinander, lächelte und sagte mit ermunternder Stimme:
»Fangen wir an, Miss Mitchell?« Markby saß diskret im hinteren Teil des Zimmers. Er lehnte sich in seinem Ohrensessel außerhalb des Lichtkreises der kleinen Stehlampe zurück und beobachtete die Inspektorin. Das gelbe Licht betonte ihre roten Haare, die von Expertenhand geschnitten waren. Sie repräsentierte ohne Zweifel die zukünftige Generation von hellen, scharfen Köpfen, wenngleich sich Markby fragte, wie die Polizei es fertig bringen sollte, so eine dynamische junge Frau lange bei der Stange zu halten. Alles schön und gut, den Einstieg in die gehobene Laufbahn anzubieten und schnelle Beförderung zu versprechen – Markby vermutete, dass sie eine junge Akademikerin war –, doch ein großer Teil der Polizeiarbeit war von Grund auf langwierig, sich wiederholend, frustrierend und sterbenslangweilig. Im Verlauf der Jahre hatte die Polizei leider eine Menge Beamte eingestellt, die genau die gleichen Qualitäten besaßen. Nicht alle, Gott sei Dank – doch das war ein Grund mehr, warum Leute wie Crane dringend benötigt wurden. Abgesehen von ihren intellektuellen Fähigkeiten war sie keine junge Schönheit im klassischen Sinn, doch sie war äußerst attraktiv. Das leuchtende Rot ihrer Haare fiel über vorstehende Wangenknochen, und sie streifte es zur Seite, wenn sie den Kopf über ihre Notizen beugte. Markby konnte sich sehr gut vorstellen, welchen Aufruhr sie in der Kantine verursachte. Trotz gewaltiger Anstrengungen im Verlauf der letzten Jahre, die derbe Männerkultur zu bekämpfen, die auf einer durchschnittlichen Polizeiwache herrschte, ließen sich alte Angewohnheiten nicht so leicht aus der Welt schaffen. Und da sie der grundlegendsten menschlichen Natur entsprachen, würde man sie kaum jemals ganz ausrotten können. Markby wagte nicht, sich vorzustellen, welche Bemerkungen und versteckten Andeutungen hinter Inspector Cranes Rücken fielen. Sie sah nicht aus wie die Sorte Frau, die offene Anspielungen von Angesicht zu Angesicht tolerierte. Markby vermutete, dass sie nur wenige Freunde bei der Polizei hatte, was seiner Meinung nach erst recht eine Schande war. Draußen war es noch nicht ganz dunkel, doch das wenige Tageslicht im Haus war grau und düster. Deswegen hatte Markby die Deckenbeleuchtung sowie eine weitere kleine Tischleuchte eingeschaltet.
»Wie geht es uns denn nun, nach diesem hässlichen Schock?« Der mütterlich besorgte Tonfall war in Merediths Fall völlig fehl am Platz, dachte Markby. Er funktionierte bei vielen Zeugen, aber nicht bei ihr. Er konnte sehen, wie sie ärgerlich wurde und im Geiste die Ärmel hochkrempelte und sich kampfbereit machte.
»Es geht mir besser als vorhin. Der erste Schock lässt nach.« Lass es gut sein damit, flehte Markby innerlich. Doch sein Gebet blieb unerhört.
»Ich könnte Sie an einen Therapeuten verweisen, wenn Sie das möchten«, fuhr Crane im gleichen mütterlichen Tonfall fort.
»Nein, ganz bestimmt nicht!«, fauchte Meredith.
»Danke für das Angebot.«
»Nun, überlegen Sie es sich und geben Sie mir Bescheid, falls Sie Ihre Meinung ändern. Ich habe hier Ihre Aussage«, fuhr die Crane im gleichen Tonfall fort.
»Die Aussage, die Sie noch am Tatort zu Protokoll gegeben haben.«
»Ich habe dem nicht viel hinzuzufügen«, entgegnete Meredith.
»Gehen wir doch einfach noch einmal alles der Reihe nach durch, ja? Fühlen Sie sich dazu imstande?«, erkundigte sich Crane freundlich. Markby saß in seiner dunklen Ecke und stellte sich vor – oder hoffte zumindest, dass er es sich nur vorstellte –, wie Meredith innerlich kochte. Er wurde allmählich unruhig. Seine große Liebe saß kerzengerade auf dem Sofa, die Arme vor der Brust verschränkt, und funkelte die junge Inspektorin an. Wenigstens bringt es sie auf andere Gedanken, versuchte er, der Situation etwas Gutes abzugewinnen. Vielleicht war Cranes Methode doch nicht so katastrophal, wie er gedacht hatte, auch wenn Crane damit mehr unverschämtes Glück als Menschenverstand bewiesen hatte.
»Was hat Sie auf diese Wiese geführt?«, fragte Inspector Crane und blickte Meredith freundlichinteressiert an.
»Koppel«, sagte Meredith mürrisch.
»Nicht Wiese, sondern Koppel. Ein Pony liegt dort begraben. Ich wollte mir die Stelle ansehen. Ich fand die Geschichte sehr bewegend.« Inspector Crane begegnete Merediths verdrießlicher Art mit professioneller Freundlichkeit und lächelte sie an.
»Das war der Grund, warum Sie im Garten von Rookery House herumspaziert sind?« Geschickte Art und Weise, dachte Markby, Meredith danach zu fragen, warum Sie unbefugt ein fremdes Grundstück betreten hat. Vielleicht hatte Inspector Crane ja auch einfach nur Gefallen daran, sich auf gefährlichen Boden zu begeben. Mit blitzenden Augen antwortete Meredith:
»Wir hatten das Haus bereits besichtigt, weil wir es vielleicht kaufen wollten. Man hat uns gesagt, dass es zum Verkauf stünde, und Sie haben sicherlich das Schild des Immobilienmaklers neben dem Tor gesehen. Die ehemalige Haushälterin der verstorbenen Besitzerin hat den Schlüssel, und sie hat uns die Räumlichkeiten gezeigt. Alan war nebenan, um jemand anders zu besuchen, und ich beschloss einfach, noch ein wenig herumzulaufen und mir den Garten anzusehen, während ich auf ihn wartete.« Inspector Crane drehte sich zu Markby um und musterte ihn aus intelligenten Augen. Sie besaß das, was man manchmal wenig nett als Pferdegesicht bezeichnete. Ein sehr englisches Aussehen, wie aus einer Galerie von Porträts alter Meister.
»Stand dieser Besuch in Verbindung mit den Erkundigungen, die Sie eingezogen haben, Sir?«
»Das ist richtig«, antwortete Markby. Er war sich durchaus bewusst, dass die junge Inspektorin sich in einer delikaten Situation befand, und er sah, dass auch sie es spürte. Sie vollführte einen Balanceakt. Sie führte die Ermittlung und befragte ihn, doch er stand höher im Rang. Sie musste ihre Fragen sehr vorsichtig formulieren. Er wartete interessiert ab, wie sie es anstellen würde.
»Ich habe mich mit Doc Burnett unterhalten, bis er weggerufen wurde.«
»Das war, als er zu Mr Armitage gerufen wurde?«
»Ja. Soweit ich zu diesem Zeitpunkt verstanden habe, war Mrs Armitage erkrankt. Ich wusste nicht, dass sie … dass sie einen Teil der sterblichen Überreste entdeckt hatte.«
»Nach meinen Informationen, Sir, haben Sie die Todesumstände der alten Dame näher untersucht, die Rookery House besaß und kürzlich verschieden ist.« Markby gab einen missbilligenden Laut von sich und winkte ab.
»Es gibt nicht den geringsten Grund zu der Annahme, es könnte sich nicht um einen Unfall gehandelt haben. Allerdings gibt es eine Reihe merkwürdiger Dinge – die offen gestanden weniger mit dem Tod der alten Dame als mit ihrem Leben zu tun haben.«
»Und Sie werden Ihre Untersuchungen fortsetzen, Sir?«, erkundigte sich die Crane.
»Nein, Inspector, das werde ich nicht. Nicht, nachdem Sie hergekommen sind.« Crane blickte ihn zweifelnd an, dann wandte sie sich wieder Meredith zu.
»Hier steht, Miss Mitchell …«, sie konsultierte ihre Notizen.
»Hier steht, Sie hätten dem Constable mitgeteilt, dass Sie den Toten als einen gewissen Ernie Berry erkannt hätten, einen Gelegenheitsarbeiter aus diesem Dorf. Andererseits ist dies, wie hier steht, Ihr erster Besuch in Parsloe St. John, und der Verstorbene hatte keinen …« Selbst die kompetente, gefasste Inspektorin zögerte, das Wort auszusprechen.
»Er hatte keinen Kopf mehr«, vollendete Meredith freimütig ihren Satz.
»Ganz recht. Der Leichnam war enthauptet. Wie konnten Sie da so sicher sein, dass es sich um Ernie Berry handelte?«
»Ich hätte es selbstverständlich nicht beschwören können, schätze ich, aber ich hatte irgendwie keinen Zweifel daran«, erinnerte sich Meredith.
»Ich habe Ernie Berry im Pub gesehen. Er war unverwechselbar gebaut. Er – der Leichnam steckte in den gleichen Sachen wie an dem Tag, an dem ich ihn gesehen hatte. Außerdem wusste ich, dass er vermisst wurde.« Inspector Crane hob die fein geschwungenen Augenbrauen.
»Tatsächlich? Und wieso wussten Sie das?« Meredith wiederholte den Inhalt ihres Gesprächs mit Mervyn Pollard und Kevin.
»Kevin sagte, dass Ernie die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen wäre.«
»Und Pollard meinte, dass Berry bei einer Freundin geschlafen hätte?«
»Das meinte er, ja. Ernie Berry war so etwas wie der einheimische Casanova, ob Sie es nun glauben oder nicht.«
»Hmmm.« Inspector Crane sah eher aus, als glaubte sie es nicht. Weswegen man ihr schließlich keinen Vorwurf machen kann, dachte Markby. Laut sagte er:
»Ich wusste ebenfalls, dass Ernie Berry vermisst wurde. Ich habe es von einem Bauunternehmer aus Parsloe St. John erfahren, einem Mann namens Max Crombie.«
»Darf ich erfahren, Sir, bei welcher Gelegenheit das war?« Höflicher als ein einfaches
»Wann war das?«. Markby antwortete mit gleicher Höflichkeit.
»Heute Morgen. Crombie hatte gestern Morgen mit Berry gerechnet; er sollte eine Arbeit für ihn erledigen. Kevin Berry ist allein gekommen. Das gleiche Spiel heute.«
»War dieser Max Crombie überrascht? War Berry normalerweise zuverlässig?«
»Offensichtlich. Crombie ging ebenfalls davon aus, dass eine Freundin im Spiel sein könnte.«
»Crombie …«, wiederholte die Inspektorin und notierte den Namen. Meredith wechselte einen Blick mit Alan in der anderen Zimmerecke.
»Hat bereits jemand Kevin Berry aufgesucht und ihm mitgeteilt, dass sein Vater tot ist?«, fragte Meredith die Inspektorin.
»Ja«, antwortete Inspector Crane knapp und verstummte wieder. Nach kurzem Zögern fügte sie unwillig hinzu:
»Er scheint nicht besonders hell zu sein, dieser Kevin Berry. Wenn ich richtig informiert bin, gibt es außer ihm keine Familienangehörigen. Kevin Berry ist neunzehn Jahre alt. Trotzdem könnte ich ihn ans Jugendamt überstellen lassen. Allerdings hat man dort viel zu tun, und es wäre vielleicht besser, wenn sich jemand aus dem Dorf für ein paar Tage um ihn kümmern würde, jemand, den er respektiert und kennt.«
»Warum fragen Sie nicht Mrs Carter?«, schlug Meredith vor.
»Sie wohnt gleich nebenan.« Meredith deutete auf die Wand, hinter der Wynnes Cottage lag.
»Mrs Carter«, murmelte Inspector Crane und notierte den Namen ebenfalls.
»Haben Sie eine Waffe gefunden?«, fragte Markby aus seiner Zimmerecke. Die Inspektorin hob verblüfft den Kopf.
»Nein, Sir«, antwortete sie schließlich ein wenig trotzig.
»Noch nicht. Wir haben angefangen, die Wiese … die Koppel«, verbesserte sie sich mit einem verstohlenen Seitenblick zu Meredith, »… die Koppel abzusuchen, doch dann wurde es dunkel, und wir mussten aufhören. Wir machen gleich morgen früh als Erstes damit weiter. Wenn wir die Waffe hier nicht finden, dann werden wir unsere Suche ausdehnen, doch das Land ist weitläufig und stark bewachsen.«
»Haben Sie schon eine Idee, wonach Sie suchen müssen?«, fragte Markby.
»Der Arzt ist der Meinung, es müsse sich um eine schwere, große Klinge gehandelt haben. Es war mehr ein Abhacken als ein Schneiden oder Sägen. Wir müssen den Obduktionsbericht abwarten, bevor wir Einzelheiten wissen.« Sie wandte sich ab; das Thema war damit offensichtlich beendet. Dann legte sie ihre Notizen in den Schnellhefter zurück, klappte ihn zu und deponierte alles in ihrem Aktenkoffer.
»Stimmt es, Sir«, sagte sie, ohne Markby anzusehen, »dass es im Dorf in jüngster Zeit eine Reihe von Fällen blinder Zerstörungswut gegeben hat?«
»Meines Wissens drei«, antwortete Markby.
»Es sei denn natürlich, Sie zählen das vergiftete Pony mit hinzu. Doch das könnte zu weit hergeholt sein.«
»Das Pony, das auf dieser Wiese, pardon, Koppel begraben liegt?«
»Ganz genau«, antwortete Meredith für Alan.
»Und dann gab es auch noch diesen Hexensabbat.« Schweigen. Inspector Crane wandte sich zu Meredith um und blickte sie misstrauisch an.
»Ein Hexensabbat, sagen Sie …?«, wiederholte sie Merediths Worte mit fassungslosem Unglauben in der Stimme.
»Es wäre wirklich …«, sagte Markby, nachdem Inspector Crane ihren Aktenkoffer genommen hatte und gegangen war, »… es wäre besser gewesen, du hättest nichts von diesem Hexensabbat erzählt. Jedenfalls jetzt noch nicht. Wir wissen doch gar nicht, ob diese Geschichte etwas mit den anderen Vorgängen zu tun hat.«
»Aber sie musste es erfahren. Inspector Crane gehört zu der Sorte, die alles wissen muss. Damit sie es aufschreiben kann.«
»Ich vermute …«, entgegnete Markby resigniert, »… ich vermute, ich muss richtig froh sein, dass du sie nicht aufgefordert hast, dir den Buckel runterzurutschen.«
»Nun, sie hat mich ziemlich geärgert.« Meredith besaß den Anstand, ein wenig verlegen dreinzublicken.
»Mir war nicht bewusst, dass man mir das ansehen konnte.«
»Du hast dir nichts ansehen lassen, keine Sorge. Es ist nur so, dass ich dich besser kenne als sie es tut. Ich denke, sie hat die Befragung einigermaßen glatt und sauber abgehandelt. Es war schwierig für sie, angesichts der Tatsache, dass ich ebenfalls zugegen war.«
Sie hat dich anständig behandelt, zugegeben , dachte Meredith, doch sie sagte nichts. Welche Zeichen deuten sicherer auf Armut hin als Läuse und wenig Brot?
Aus einem Brief an Lewis le Grand, 1709
KAPITEL 16
ERNIE BERRY saß unter seinem Kastanienbaum. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund hatte er seinen Kopf wieder auf den Schultern. Er hatte ihn aus Gill Armitages Rosenbeet geholt, oder vielleicht hatte jemand anders ihn geholt und hierher zu ihm gebracht, und er hatte ihn sich wieder aufgesetzt. Nicht besonders gut, denn Meredith konnte die Nahtstelle deutlich erkennen. Sie lief um seinen Hals herum wie ein schwarzer Ring. Andererseits gut genug, denn er grinste sie auf seine typische, bedeutungslose Weise an.
Es war sehr heiß auf der Koppel. Meredith stand vor Ernie und blickte auf ihn hinunter.
»Sie sollten nicht hier sein, Ernie«, sagte sie.
»Das hier ist Mrs Smeatons Garten.«
Doch Ernie Berry grinste sie nur spöttisch an. Dann hob er einen seiner mächtigen Arme, deutete auf seinen Kopf – und der Kopf fiel von seinen Schultern, rollte über das Gras und grinste sie immer noch unverwandt an.
An dieser Stelle wachte Meredith auf. Ein Glück!
Es hatte sie einigen Mut gekostet, am Abend zuvor überhaupt ins Bett zu gehen. Sie hatte Angst gehabt, die Erinnerung an die Ereignisse des Tages würden sie nicht zur Ruhe kommen lassen und am Einschlafen hindern – und dass, falls sie doch einschlief, die schlimmen Träume kämen. Und genau so war es gewesen.
Meredith blinzelte in die Dunkelheit, dankbar, dass sie aus dem Albtraum erlöst war, auch wenn sie physisch noch unter seinen Auswirkungen litt, ihr Herz flatterte und ihre Haut schweißverklebt war. Ich muss damit fertig werden, und zwar möglichst schnell, dachte sie. Ich darf nicht zulassen, dass Ernie Berry mich bis in den Schlaf verfolgt.
Doch das war unausweichlich, zumindest für einige Zeit. Sie konnte ihn im Zaum halten, wenn sie sich anstrengte. Ihr Schädel pochte, und sie blickte stirnrunzelnd in die Dunkelheit, während sie versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, nachdem sie den Leichnam gefunden hatte. Sie hatte sich umgedreht und war über die Koppel gerannt, als sei der Leibhaftige hinter ihr her – nein. Nein, sie hatte sich zuerst übergeben, auch wenn sie sich nur ganz dumpf daran erinnern konnte. Danach war sie geflüchtet, und daran erinnerte sie sich überhaupt nicht mehr. Ihre Erinnerung setzte erst wieder ein, als sie durch das Tor war und Alan auf der Straße gefunden und sich mehr darüber gefreut hatte als jemals zuvor in ihrem Leben über irgendeine andere Begegnung.
Von ihrer Flucht über die Koppel wusste sie … nichts mehr. Von dem kleinen, ummauerten Küchengarten und den anderen Gärten rings um das Haus – nichts. Und doch hatte es da etwas gegeben, irgendetwas, wenn sie sich doch nur erinnerte! Meredith kniff die Augen zusammen und stellte sich Rookery House vor. Ärgerlicherweise erschien es wie durch einen Nebel hindurch, nur ein dunkler Umriss, das war alles. Die Auffahrt und das schmiedeeiserne Tor waren gleichermaßen undeutlich. Die Straße davor, die Kirche, The Abbot’s House auf der anderen Seite – alles war in dichten Nebel gehüllt.
Sie hatte sich nicht nur deswegen über Inspector Crane geärgert, weil sie attraktiv aussah und so forsch aufgetreten war, sondern weil sie von Meredith erwartet hatte, dass sie munter drauflosplappern würde, wie sie Ernie unter dem Baum gefunden hatte, dass sie sich an jedes Detail erinnern konnte. Doch es war ganz anders. Meredith erinnerte sich an so gut wie gar nichts. Sie sah nichts außer Ernie unter dem Baum und wie der unglückselige Mann sich den Kopf auf den Hals setzte und spöttisch grinste. So viel zur Erinnerung. Sie hatte sich höchst unfair gegenüber Crane verhalten, die so mitfühlend gewesen war und ihr sogar therapeutischen Beistand angeboten hatte. Ausgerechnet!
»Ich will keinen Therapeuten, verdammt! Ich will mich an das erinnern, was ich vergessen habe, was auch immer es ist!«, murmelte Meredith in die Dunkelheit.
»Meredith?« Alan rührte sich.
»Alles in Ordnung?«
»Alles bestens, danke. Ich hab nur laut vor mich hin gedacht.«
»Hast du schlecht geträumt?« Er stemmte sich auf einen Ellbogen.
»Ich gehe und hole dir ein Aspirin.«
»Nur ein wenig. Nichts Schlimmes. Ich brauche kein Aspirin, danke. Ernie hat seinen Kopf wiedergefunden – in meinem Traum, meine ich.«
»Ernie ist tot, und du kannst ihn vergessen. Du hast Inspector Crane alles gesagt, was du weißt. Vergiss die ganze Geschichte am besten. Du musst dir nicht länger den Kopf darüber zermartern.« O doch, dachte Meredith. Und wie ich mir den Kopf zermartere. Doch das sagte sie Alan nicht.
Gleich am nächsten Morgen, direkt nach dem Frühstück, stand Wynne wieder vor der Haustür.
»Wie geht es Meredith heute?«, fragte sie freundlich und fügte ein wenig angespannter hinzu:
»Hat man inzwischen schon etwas gefunden? Irgendeine Spur?«
Sie trug die gleiche weite Hose wie am Vortag, doch der kanariengelbe Pullover war einem graubeige gemusterten Modell mit kompliziertem Strickmuster aus vielfarbenen wollenen Rosetten gewichen.
Die beiläufige Frage und das lässige Auftreten täuschten Markby nicht eine Sekunde.
»Wynne, bei all Ihren Kontakten zur Presse – glauben Sie tatsächlich, ich würde es Ihnen verraten? Wenn ich etwas wüsste, heißt das, was nebenbei bemerkt nicht der Fall ist. Es ist noch viel zu früh. Was Meredith betrifft, sie hatte eine mehr oder weniger schlaflose Nacht. Heute Morgen geht es ihr ein wenig besser. Kommen Sie doch rein und sehen Sie selbst.« Wynne trat an ihm vorbei in den Flur. Ihr Kater Nimrod hatte auf der Schwelle neben ihren Hacken gelauert und sah nun, dass seine Herrin sich entschieden hatte, das Haus zu betreten. Mit einem Satz schoss er an Wynne vorbei und die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Wynne entschuldigte sich für sein Verhalten, das sie auf die natürliche Neugier aller Katzen zurückführte. Markby dirigierte sie in die Küche, wo Meredith über einer letzten Tasse Kaffee trödelte.
»Keine Sorge wegen des Katers. Mir geht es einigermaßen«, begrüßte Meredith ihre Besucherin und lächelte schwach.
»Ich habe Kaffee getrunken und Cornflakes gegessen, und ich glaube nicht, dass ich in Depressionen fallen werde.« Wynne setzte sich zu ihr an den Tisch und beugte sich vor, als wollte sie ihr etwas Vertrauliches sagen.
»Sie sind eine sehr tapfere Frau, Meredith. Diese junge Inspektorin hat gestern Abend noch bei mir geläutet, nachdem sie bei Ihnen fertig gewesen ist.«
»Oh, Sie meinen Inspector Crane«, murmelte Meredith.
»Eine sehr kompetente Person.« Beide Frauen schwiegen, während ihre unausgesprochenen Worte in der Luft hingen. Es war offensichtlich, dass beide den gleichen Gedanken nachhingen. Wynne war die Erste, die ihren Gedanken Ausdruck verlieh.
»Sie sehen heute ganz anders aus, diese Polizistinnen, finden Sie nicht auch? In meiner Zeit waren sie ziemlich … äh, stabil gebaut und hatten nicht den geringsten Sinn für Mode.«
»Das ist bei den männlichen Polizisten nicht anders«, erwiderte Meredith.
»Sie werden jünger und jünger, heißt es zumindest.«
»Wie wahr, wie wahr. Inspector Crane hat einen sehr energischen, kompetenten Eindruck hinterlassen. Ich weiß nicht, was die Leute im Dorf von ihr halten werden.« Markby räusperte sich und fragte in leidendem Tonfall, ob dies bedeutete, dass er ein harmloser alter Kauz wäre, dessen Ablaufdatum längst überschritten sei und der längst in den Ruhestand gehörte. Beide Frauen beeilten sich zu versichern, dass dem selbstverständlich nicht so wäre.
»Na Gott sei Dank«, murmelte Markby.
»Ich habe mir schon ernsthaft Gedanken gemacht.« Nimrod war offensichtlich mit seinen Erkundungen im Haus fertig. Er tauchte in der Küchentür auf, sah zu Markby hoch und tappte dann zu seiner Herrin, um sich zu ihren Füßen niederzulassen. Meredith sprach ihn leise an. Er legte das heil gebliebene Ohr an, was ihm ein besonders finsteres Aussehen verlieh, und ignorierte Merediths Bemühungen im Übrigen völlig.
»Aber im Ernst«, sagte Wynne.
»Ich bin vorbeigekommen, um Ihnen zu erzählen – selbstverständlich erst, nachdem ich mich überzeugt habe, dass es Ihnen besser geht –, dass die Inspektorin mich nach Berrys Jungem gefragt und darum gebeten hat, dass ich mich für eine Weile um ihn kümmere. Ich habe ihr versprochen, dass ich heute Morgen zum Cottage der Berrys gehen und nachschauen würde, wie es dem Jungen geht. Ich hoffe sehr, er kommt einigermaßen zurecht.«
»Ich habe Sie vorgeschlagen, Wynne«, gestand Meredith.
»Ich hoffe sehr, es kommt Ihnen nicht ungelegen.«
»Selbstverständlich nicht! Aber ich frage mich, ob ich alleine so gut damit zurechtkomme. Es ist mir ein bisschen unangenehm, wie ich verlegen gestehen muss, nach allem, was Sie durchgemacht haben, aber besteht vielleicht die Möglichkeit, dass Sie mitkommen?« Wynne warf einen nervösen Seitenblick zu Markby.
»Ich kann mir denken, dass Sie keine große Lust dazu verspüren, und bestimmt haben Sie schon andere Pläne für den Tag oder möchten einfach in Ruhe gelassen werden, aber Sie sind erfahren im Umgang mit Menschen, die großen Schmerz erlitten haben. Ich zwar in gewisser Weise auch, aber auf eine andere Weise. In meiner aktiven Zeit habe ich die armen Teufel nicht in Ruhe gelassen, bis sie mir ihre Geschichte erzählten.« Nimrod schien allmählich unruhig zu werden. Tatsächlich, überlegte Meredith, war es wahrscheinlich schlimmer, wenn sie den ganzen Tag über im Haus saß, allein mit ihren Gedanken, als wenn sie nach draußen ging – andererseits war Kevin der Junge des Toten und der Letzte, den Meredith sehen wollte. Außerdem war sie es gewesen, die der Inspektorin Wynne vorgeschlagen hatte, und nur deshalb war Kevin auf Wynnes Teller gelandet. Es war nicht ganz fair gewesen, zumindest nicht, ohne vorher Wynne um ihr Einverständnis zu bitten. Sie schuldete ihr ein wenig Unterstützung bei ihrer schwierigen Aufgabe. Mit ein wenig Glück würde der Anblick Kevins dabei helfen, Ernies Geist zu vertreiben. Meredith sah Markby an.
»Haben wir irgendwelche Pläne für heute?«
»Nicht am Vormittag. Ich denke, wir sollten im Dorf bleiben, für den Fall, dass die ermittelnden Beamten noch Fragen an uns haben. Das Cottage der Berrys ist nicht außerhalb – es liegt bei dir. Wenn du meinst, du wärst dazu imstande, kannst du gerne mitgehen. Aber wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne hier bleiben. Ich dachte, ich rufe Sir Basil an und unterrichte ihn über die neueste Entwicklung. Wir sehen uns dann später, einverstanden?«
»Ich habe eine bessere Idee! Ich lade Sie beide zum Mittagessen ins King’s Head ein!«, sagte Wynne.
»Ja, ja, bitte keinen Widerspruch. Das ist das Wenigste, was ich tun kann!« Sie legte die Hände auf die Tischplatte und stemmte sich hoch. Nimrod marschierte mit erhobenem Stummelschwanz zur Haustür und blieb erwartungsvoll dort stehen.
»Er beginnt, Sie zu akzeptieren«, sagte seine Besitzerin zu Meredith und Markby, obwohl Alan nicht erkennen konnte, worauf diese optimistische Einschätzung basierte.
»Klopfen Sie einfach an meiner Tür, Meredith, wenn Sie fertig sind, einverstanden?« Wenn ich fertig bin!, dachte Meredith. Ha!
»Wenn dir nicht danach ist, warum hast du es dann nicht gesagt?« Alan musterte sie besorgt.
»Möchtest du, dass ich rübergehe und Wynne absage?«
Sie richtete sich in ihrem Stuhl auf.
»Nein! Ich habe gesagt, dass ich mitkomme, und das werde ich auch! Keine Sorge, es wird schon gehen. Außerdem denke ich, dass ich es Kevin schuldig bin, ihm mein Beileid auszusprechen und nachzusehen, ob mit ihm alles in Ordnung ist. Was wirst du Sir Basil erzählen?«
Alan schnitt eine Grimasse und wippte mit seinem Stuhl auf den Hinterbeinen, während er die Arme hinter den Kopf streckte. Der Stuhl kam wieder nach vorn und landete mit einem dumpfen Schlag auf den vorderen Beinen, und Markby stemmte die Ellbogen auf die Tischplatte.
»Ich weiß es noch nicht. Ich werde nach Gefühl vorgehen. Ich dachte, er könnte vielleicht ein Treffen zwischen mir und Lawrence Smeaton organisieren. Ich bin nicht länger befugt, in Parsloe St. John herumzulaufen und Fragen zu stellen, aber ich könnte nach Cumbria fahren. Du könntest mitkommen, falls du Lust hast. Wir könnten irgendwo übernachten.«
»Wann?«, fragte Meredith.
»Das hängt von Sir Basil und Lawrence Smeaton ab – falls er überhaupt einverstanden ist, mit mir zu reden. Das wiederum hängt wahrscheinlich davon ab, was er über Olivia denkt, selbst nach all der Zeit. Vielleicht ist er ja auch krank und möchte nicht, dass ein Fremder ihn über die Vergangenheit ausquetscht.« Markby sah ein wenig verlegen aus.
»Ich sage nicht, dass ich der gleichen Meinung bin wie Wynne, wohlgemerkt. Aber ich mache nicht gerne halbe Sachen. Ich habe angefangen, hier im Dorf Erkundigungen einzuziehen, und ich habe nichts in Erfahrung bringen können. Der Einzige, der mir noch fehlt, ist Lawrence Smeaton, dann könnte ich die Sache für mich abschließen. Wynne würde es ebenfalls freuen. Ich habe Inspector Crane gesagt, dass ich mich nicht in ihre Ermittlungen einmischen würde, und das habe ich auch nicht vor. Ich stelle ganz private Nachforschungen an, um meine Neugier zu befriedigen. Ich bin wie Nimrod. Ich will sehen, was sich hinter jeder Tür verbirgt. Eine schlechte Angewohnheit, ich weiß, aber ich fürchte, sie ist tief in mir verwurzelt.«
»Wo wir von Wynne reden …« Meredith schob ihren Stuhl zurück und stand auf.
»Ich denke, wenn ich schon den guten Samariter spielen und Berrys Jungen besuchen muss, dann bringe ich es besser so schnell wie möglich hinter mich. Wir treffen uns um zwölf im Pub, einverstanden?« Das Cottage der Berrys stand ein klein wenig außerhalb des Dorfs am Ende eines langen, zerfurchten Feldwegs. Es gab keine weiteren Gebäude in der Umgebung, nur Felder. Das Cottage sah nicht aus, als wäre es erbaut worden, sondern als wäre es gewachsen. Die alten Mauern besaßen die Farbe von Erde, das strohgedeckte Dach war von Nagern angefressen und vom Alter dunkelbraun. Am unteren Rand wuchsen große Moospolster. Die Berrys hatten keinen Garten – oder wenigstens nichts, was man als Garten hätte erkennen können. Das Cottage war von einem recht großen Grundstück umgeben, das von allen erdenklichen Kräutern und wild wachsenden Ackerfrüchten überwuchert wurde. Die wenigen kahlen Stellen waren voll gestellt mit Autowracks. Ein alter Krankenwagen ohne Räder, aufgebockt auf Ziegelsteinen, zwei Oldtimer, die vor sich hin rosteten, und ein gelb gestrichener zweirädriger Einspänner, dessen Deichselstangen schräg in den Himmel ragten.
»Ich glaube, Ernie hat nebenbei ein wenig mit Schrott gehandelt«, sagte Wynne.
»Dieser Einspänner«, sagte Meredith und deutete auf die nach oben ragenden Stangen.
»Er sieht neuer aus als der restliche Plunder.« Sie näherten sich dem Gefährt und achteten vorsichtig darauf, wohin sie traten. Nichtsdestotrotz flatterte unvermittelt eine Henne gackernd vor ihnen auf, und Federn stoben in die Luft. Sie landete ein paar Meter entfernt und stakste laut protestierend davon, um sich zu ihren Artgenossen unter einen Baum zu gesellen, die scharrend in der Erde nach Würmern und Körnern pickten und Meredith erst jetzt auffielen. Meredith warf einen Blick in den Zweispänner und rief:
»Puh!«
»Was denn, haben Sie Eier gefunden?«, fragte Wynne mit belustigtem Schnauben.
»Nein, nur einen Haufen Hühnerscheiße. Was für eine entsetzliche Schweinerei! Ernie war ein altes Ferkel!« Vorsichtig untersuchte Meredith den Wagen. Der Einspänner war von oben bis unten mit Hühnerkot verdreckt und stank furchtbar, doch er schien trotzdem noch fahrtauglich zu sein. Der hintere Teil war mit einer Plane abgedeckt. Die großen Räder versanken halb in hohem Unkraut mit gelben Blüten, doch sie schienen in Schuss zu sein.
»Ich glaube«, sagte Wynne leise, »das hier war Olivias Wagen. Ernie scheint ihn von ihr gekauft zu haben, als sie aufgehört hat, durch das Dorf zu fahren. Was wollte er mit diesem Ding? Wenn er es verkaufen wollte, hätte er es vernünftig abdecken müssen. Die Polsterung ist durchweicht und von den Hühnern ruiniert. Was für eine Schande. Es ist richtiges Leder.« Sie wandten sich ab und gingen zum Eingang. Als sie vor der Tür standen, bemerkte Meredith aus den Augenwinkeln eine Bewegung hinter der schmutzigen Glasscheibe eines nahen Fensters. Wynne klopfte, doch niemand öffnete.
»Er ist aber im Haus«, murmelte Meredith. Wynne klopfte erneut, energischer diesmal.
»Kevin?«, rief sie laut.
»Ich bin es, Mrs Carter! Machen Sie auf, bitte!« Ihr entschlossener Tonfall schien Kevin zu beeindrucken. Er war daran gewöhnt, Befehle auszuführen. Im Haus klapperte etwas, dann wurde ein Riegel zurückgeschoben, und die Tür öffnete sich. Vor ihnen stand Kevin. Er schien sich seit seiner letzten Begegnung mit Meredith vor dem Hof des King’s Head weder gewaschen noch die Kleidung gewechselt zu haben. Er starrte die beiden Frauen mit wilden Blicken an, dann fixierte er Wynne voller Angst.
»Ich war es nicht!«, sagte er und nahm die Hände auf den Rücken.
»Selbstverständlich nicht, Kevin«, antwortete Wynne.
»Wir wissen das. Wir sind vorbeigekommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht. Dürfen wir reinkommen?« Kevin wich von der Tür zurück, und mit einem Gefühl von starkem Widerwillen folgte Meredith der älteren Wynne ins Innere des Hauses. Ursprünglich musste es einen winzigen Flur gegeben haben mit einer Treppe nach oben in den ersten Stock. Irgendjemand, wahrscheinlich Ernie, hatte die Wand zwischen Flur und Wohnzimmer herausgeschlagen, und sie standen nun in einem großen freien Raum. Die nach oben führende Treppe befand sich auf der anderen Seite des Raums. An einer Wand stand ein großer alter Kamin mit einem gusseisernen Gitter. Kevin hatte ein Feuer angezündet, und stark riechende dünne Rauchschleier zogen in den Raum und vermischten sich mit den anderen Gerüchen nach Schweiß, Staub, Moder, verbranntem Fett und Bierhefe. Meredith unterdrückte einen Impuls zu würgen. Das Sims über dem Kamin war voll gestellt mit schwarzem Kochgeschirr. An einer Schiene über dem Kamin hingen schmutzige Lappen und ein Paar Socken. Das Zimmer quoll über vor Möbeln. Ein Teil davon war qualitativ durchaus hochwertig und antik, wenn auch stark verschmutzt. Meredith fragte sich, ob Ernie vielleicht regelmäßig auf Antikmärkten in der Gegend gewesen war. Der Fernseher hatte einen besonderen Platz, wie in vielen Häusern. Der Apparat lief, jedoch ohne Ton. Kevin stand vor ihnen, die Hände immer noch hinter dem Rücken, die Beine leicht gespreizt, in einer grotesken Karikatur der Haltung, die beim Militär
»bequem stehen« hieß. Der Junge fühlte sich offensichtlich alles andere als wohl in seiner Haut. Er starrte Wynne unverwandt an, und die Panik war immer noch in seinen Augen.
»Es tut uns wirklich Leid, was mit Ernie passiert ist«, begann Wynne.
»Wie kommen Sie zurecht, Kevin?« Er fuhr sich mit der Zunge über die, wie Meredith jetzt erst bemerkte, aufgeplatzte Oberlippe. Die Verletzung war halb verheilt und schorfbedeckt. Sie bemerkte einen abgebrochenen Vorderzahn, als Kevin antwortete:
»Diese Polizistin war hier. Sie hat mich lauter Sachen gefragt.«
»Inspector Crane. Es ist ihre Aufgabe, Fragen zu stellen, Kevin.«
»Ich hab ihr gesagt, Ernie ist nicht nach Hause gekommen. Zwei Nächte schon ist er nicht heimgekommen. Mr Crombie war richtig böse deswegen. Ich hab’s ihm auch gesagt, dass Ernie nicht da war. Ich weiß nicht, wohin Ernie gegangen ist. Er hat es mir nie gesagt.«
»Kam es häufiger vor, dass er – dass Ernie nicht nach Hause kam?«, erkundigte sich Meredith. Kevin wandte sich von Wynne ab und starrte Meredith an, als sähe er sie jetzt zum ersten Mal.
»Er hat nie was gesagt, und ich hab ihn nie gefragt.« Und er hat dir eingeschärft, nicht mit der Wahrheit rauszurücken, wie?, dachte Meredith. Wynne war zum Kamin getreten und musterte nun das Sammelsurium von Töpfen und Pfannen.
»Haben Sie schon gefrühstückt, Kevin?«
»Ich hab eine Dose Bohnen gegessen«, murmelte Kevin.
»Ich hab gestern Abend eine Dose Bohnen gegessen.«
»Ja, aber heute Morgen? Oh, Sie Ärmster …« Wynne starrte voller Verzweiflung auf das Kochgeschirr.
»Haben Sie vielleicht einen Kühlschrank oder eine Speisekammer?« Kevin durchquerte den Raum und öffnete eine Tür in einer Ecke, dann trat er schweigend beiseite und wartete darauf, dass Wynne und Meredith inspizierten, was sich dahinter befand. Zögernd traten seine beiden Besucherinnen näher und warfen einen Blick in die kühle, begehbare Kammer. Auf dem Steinboden standen mehrere Kisten mit Flaschen. Auf den Regalen lagerten Schüsseln und Schalen. In einer Schale war Schmalz, daneben lag ein wenig Brot in einer Plastiktüte, und in einer weiteren Schale fanden sie ungewaschene Eier. Die Kammer war erfüllt von einem muffigen, beißenden Geruch, von dem Meredith annahm, dass er von Mäusen stammte. Sie nahm einen kleinen Zinnteller und stülpte ihn umgedreht über die Schale mit dem Schmalz. Besser spät als nie. Wynne nahm die Eier in Beschlag.
»Ich werde Ihnen ein Omelett machen, Kevin, einverstanden?« Mit den Eiern und dem Brot verließ sie die Kammer und machte sich am Kaminofen zu schaffen. Metallisches Klappern verriet Meredith, dass Wynne nach einer geeigneten Pfanne suchte.
»Kevin, haben Sie ein wenig Geld, damit Sie sich etwas zu essen kaufen können?«, fragte Meredith leise. Kevins Blick glitt zu einem glasierten braunen Tonkrug auf einer voll gestellten edwardianischen Chiffonniere.
»Ernie hat das Haushaltsgeld da drin aufbewahrt«, sagte er einfach. Meredith inspizierte den Krug. Er enthielt drei Ein-PfundMünzen und ein Zwanzig-Pence-Stück. Sie kramte in ihrer Tasche und zog eine Zehn-Pfund-Note hervor.
»Hier, damit Sie sich etwas zu essen kaufen können, Kevin. Oder wäre Ihnen lieber, wenn ich einkaufen gehe und Ihnen die Vorräte bringe?« Kevin nahm eine Hand hinter dem Rücken hervor und schnappte die Banknote geschickt aus Merediths Fingern.
»Ich kann in den Laden gehen«, sagte er und stopfte sich den Geldschein in die schmutzige Jeans.
»Wie sieht es mit Ihrer Zukunft aus? Sie brauchen eine Arbeit, um sich ein wenig Geld zu verdienen.«
»Mr Crombie sagt, er gibt mir Arbeit.« Wynne stand am Herd und spähte über die Schulter zu ihnen.
»Ich nehme an, Max wird sich um ihn kümmern. Ich werde sicherheitshalber noch mal mit ihm reden«, sagte sie.
»Vielleicht sollten wir doch lieber die Fürsorge informieren«, murmelte Meredith.
»Nein, nein, es geht auch ohne!«, sagte Wynne entschieden.
»Das Dorf wird sich irgendwie um ihn kümmern, keine Sorge.« Sie nahm die Bratpfanne vom Rost.
»Bringen Sie mir einen Teller, Kevin!«, befahl sie.
»Ernie und ich haben meistens aus der Pfanne gegessen«, murmelte Kevin.
»Dann wird es Zeit, dass Sie anfangen, von einem Teller zu essen!«, schnappte Wynne. Kevin ging zu einem Schrank und kehrte mit einem äußerst feinen, sehr alten Porzellanteller mit Weidenmuster zurück. Die beiden Frauen standen hinter ihm, während er das Omelette und drei Scheiben Brot verschlang.
»Ich komme morgen wieder, Kevin«, versprach Wynne, als er fertig war. Kevin sah von seinem Teller auf.
»Das ist nicht nötig, Ma’am.«
»Trotzdem. Ich komme.«
»Kevin«, sagte Meredith sanft.
»Haben Sie sich die Finger verbrannt?« Kevin riss die Hände vom Tisch und verbarg sie in seinem Schoß.
»An dem alten Ofen, als ich versucht hab, ihn sauber zu machen.«
»Das ganze Haus muss gründlich sauber gemacht werden!«, erklärte Wynne.
»Ich werde etwas organisieren, später. Vielleicht erklärt sich Janine bereit, vorbeizukommen und zu putzen, wenn ich ihr genügend Geld anbiete.«
»Wir wollen aber niemanden hier haben«, sagte Kevin.
»Ernie und ich, wir möchten nicht, dass jemand herkommt.«
»Aber Ernie ist tot, Kevin«, sagte Wynne sanft. Kevin zog die dürren Schultern nach vorn.
»Er ist nicht nach Hause gekommen, schon seit zwei Nächten nicht. Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist. Er hat mir nichts gesagt, und ich hab ihn nicht gefragt.« Er blickte Wynne verstohlen von unten herauf an.
»Ich war es nicht!«, wiederholte er.
»Ich kann nicht sagen, dass ich nur ungern von dort weggegangen bin. Was für ein furchtbares Haus!« Die Worte kamen über Wynnes Lippen, als hätten sie einen eigenen Schwung. Sie schüttelte den Kopf und verstummte, während die beiden Frauen, den Blick starr geradeaus gerichtet, nebeneinander hergingen.
Sie wanderten über den Feldweg, der zum Cottage führte.
»Ich dachte, er würde unter Schock stehen, was ja auch verständlich wäre«, sagte Meredith.
»Aber wenn Sie mich fragen, zurückgeblieben kam er mir nicht gerade vor.«
Wynne sah Meredith an.
»Im Allgemeinen kommt er schon zurecht, wissen Sie? Solange seine alten Gewohnheiten zum größten Teil erhalten bleiben, dürfte er keine Schwierigkeiten haben. Mit alten Gewohnheiten meine ich, dass er in seinem Haus bleibt und für Max Crombie arbeitet oder Gelegenheitsjobs für andere Leute ausführt. Genau wie vor Ernies Tod. Ich stimme mit Ihrer Einschätzung, dass er nicht wirklich zurückgeblieben ist, überein. Er ist auf altmodische Weise einfach. Praktisch keinerlei Schulbildung, er kennt nichts von der Welt außerhalb des Dorfes, doch in diesem kleinen Kosmos kommt er prima zurecht.«
Ihre Worte standen in grellem Gegensatz zu dem, was sie beim Verlassen des Cottages ausgestoßen hatte. Die letzten Worte waren mit Vernunft ausgesprochen, die ersten waren aus dem Herzen gekommen, wie Meredith erkannte. Das Gefühl der Unruhe, das sie bereits im Cottage gespürt hatte, verstärkte sich noch. Nicht zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Parsloe St. John hatte sie das unbestimmte Gefühl, von Geheimnissen umgeben zu sein. Selbst Wynne, die unvergleichlich zuverlässige, stets freundliche und erfahrene Person, schien irgendetwas zu verbergen. Sie schien sich davor zu fürchten, ihre wahren Gedanken auszusprechen, und erzeugte stattdessen ein Szenario, das weniger besorgniserregend war und das sie selbst besser akzeptieren konnte. In ihrer Aussage, dass Kevin bestimmt zurechtkommen würde und es nicht erforderlich war, dass sich andere Stellen von außerhalb des Dorfes in seine Angelegenheiten mischten, steckte schon fast Sturheit.
»Ich schätze, Sie haben Recht«, räumte Meredith ein – nicht aus Überzeugung, sondern weil sie spürte, das Wynne genau diese Antwort hören wollte.
Alan Markby war durch das Dorf zu Rookery House gewandert, hatte dem Beamten am Tor seinen Dienstausweis gezeigt, den Garten durchquert und war am Tor zur Koppel angekommen.
Sie suchten noch immer nach der Tatwaffe. Er beobachtete die Reihe von Beamten, Männer und Frauen, die sich in einer breiten Linie langsam voranarbeiteten, den Blick unablässig auf den Boden gerichtet. Sie hatten das Ende der Koppel fast erreicht. Wenn sie fertig waren, würden sie woanders weitersuchen, wahrscheinlich im alten Küchengarten, und wenn sie dort immer noch nichts fanden, anschließend das restliche Grundstück durchsuchen. Es war eine langwierige Arbeit, und er empfand Mitgefühl für seine Kollegen. Er konnte die Frustration nachvollziehen, die sie spüren mussten. Inspector Crane stand ein klein wenig abseits in der Nähe des Kastanienbaums und sprach mit einem Uniformierten, wahrscheinlich dem Sergeant, der die Suche leitete. Sie wandte sich zur Seite, blickte über die Koppel nach unten und erkannte Markby am Tor. Sie setzte sich in Bewegung und kam in seine Richtung. Er öffnete das Tor und ging ihr entgegen.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen, Sir.« Sie sah ihn misstrauisch an. Sie trug diesmal flache Schuhe, die für das Gelände geeignet waren, einen Rock mit Schottenmuster und eine gefütterte ärmellose Weste über einem flaschengrünen Pullover. Die langen roten Haare waren streng nach hinten gebürstet und wurden von einem Band zusammengehalten.
»Wie kommen Sie voran?«, erkundigte sich Markby freundlich. Ein angespanntes Lächeln huschte über ihre Züge und verschwand sogleich wieder.
»Bis jetzt hatten wir leider noch kein Glück. Wir machen heute Nachmittag im Küchengarten weiter.«
»Ich bin nicht gekommen, um im Weg zu stehen«, versicherte er ihr.
»Ich habe mich nur gefragt, ob es bereits einen ersten Obduktionsbericht gibt?«
»Die Obduktion wurde gestern Abend durchgeführt, Sir. Es gibt keinerlei Spuren von einem Kampf, bevor Berry … bevor er starb. In seinem Körper befand sich eine große Menge Alkohol. Der Pathologe glaubt, dass er in den letzten zwölf Stunden vor seinem Tod stark getrunken hat. Er hat seinen Rausch möglicherweise unter diesem Baum ausschlafen wollen – doch das ist nur eine Theorie. Es ist jedenfalls ein hübscher Fleck. Jemand kam vorbei und hat mit einem einzigen gezielten Streich seine Kehle durchtrennt, die Luftröhre und die Halsschlagadern. Berry hat möglicherweise nicht einmal bemerkt, was mit ihm geschah. Kurze Zeit später hat der Mörder seine Arbeit vollendet, indem er die Halswirbel und den Rest des Gewebes durchtrennte. Vielleicht hatte er vor, den Leichnam zu zerteilen und Stück für Stück wegzuschaffen. Falls ja, ließ er irgendwann von diesem Plan ab. Wir wissen nicht, warum er den Kopf mitgenommen hat. Vielleicht, um die Identifikation zu verzögern … dort, wo er ihn zurückgelassen hat, musste er früher oder später gefunden werden.« Sie sprach nüchtern und sachlich. Sie war nicht gefühllos, doch sie hatte ihre Nerven ausgezeichnet unter Kontrolle. Sie war eine erfahrene Polizeibeamtin.
»Was hat Sie bewogen, eine Karriere bei der Polizei anzustreben?«, fragte er unvermittelt. Sie zögerte.
»Üblicherweise, wenn man mir diese Frage stellt, antworte ich, dass ich eine sinnvolle Arbeit machen will.«
»Soweit es mich betrifft, ist das ein ausgezeichneter Grund.« Markby nickte in Richtung des Kastanienbaums und des Geistes von Ernie Berry, falls er noch dort spukte.
»Wie lange war er schon tot?«, fragte er. Sie entspannte sich sichtlich. Ohne Zweifel war sie erleichtert, weil er ihr weitere persönliche Fragen ersparte.
»Der Pathologe schätzt, nicht länger als fünf oder sechs Stunden.«
»Er war schon viel länger verschwunden. Er war seit zwei Nächten nicht mehr zu Hause. Er muss sich während all dieser Zeit irgendwo aufgehalten haben. Möglicherweise nicht in Parsloe St. John, sonst hätte ihn ganz bestimmt jemand gesehen.« Markbys Bemerkungen waren beiläufig gemeint. Er hatte nicht beabsichtigt, ihre Arbeit zu tun, doch offensichtlich empfand sie es so, denn sie erstarrte.
»Jawohl, Sir. Wir suchen noch immer nach einer Freundin. Es könnte sich als schwierig erweisen.« Ihr Blick schweifte über die Koppel zu dem Kastanienbaum und der Stelle, wo der kleine Erdhügel das Grab markierte.
»Er hat beim Ausheben des Grabes geholfen. Dann kehrte er hierher zurück und starb. Es ist fast, als wäre er zum Sterben hergekommen. Ein eigenartiger Ort, wenn man es bedenkt. Sich neben einem Pferdegrab unter einen Baum zu setzen und ein Nickerchen zu halten.«
»Vielleicht wusste er, dass ihn hier niemand stören würde?«, schlug Markby vor.
»Er kannte dieses Haus und die Gärten gut. Er hat schließlich viele Jahre für Mrs Smeaton gearbeitet.«
»Vermutlich haben Sie Recht, Sir.« Sie steckte die Hände in die Westentaschen. Die Suchkette hatte das Ende der Koppel erreicht und machte kehrt. Markby nickte in Richtung der Leute.
»Ich lasse Sie jetzt besser wieder allein.«
»Ich hoffe, Miss Mitchell geht es heute ein wenig besser«, sagte sie unerwartet.
»Es geht ihr gut«, antwortete Markby energisch.
»Sie ist mit Wynne Carter ins Dorf gegangen, um nach Berrys Jungem zu sehen.« Crane schnitt eine Grimasse.
»Dieses Cottage ist eine echte Müllhalde von einem Haus, wenn Sie mich fragen! Wenn Miss Mitchell noch nie dort war, wird sie ihren nächsten Schock erleben.«
»Ich werde heute Mittag alles darüber erfahren. Wir werden im Pub essen, im King’s Head. Haben Sie nicht Lust, uns Gesellschaft zu leisten?« Sie zögerte.
»Ich weiß nicht, ob ich Zeit dafür finde. Sie wissen ja, wie das ist, Sir. Trotzdem, danke sehr für die Einladung.«
»Kein Problem. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Hoffentlich finden Sie die Mordwaffe bald.« Er wandte sich ab und ließ sie mit ihrer Arbeit allein.
Amanda Crane sah ihm hinterher, bis er durch das Tor war, dann wandte sie sich dem Trupp zu, der die Koppel absuchte. Der Superintendent schien ein netter Bursche zu sein, trotzdem war es ein Ärgernis, ihn hier zu haben. Er wollte sich nicht einmischen. Er war im Urlaub, und dies war kein Fall, der ihm unterstand. Trotzdem, er konnte nicht anders, wie es schien. Er war beruflich interessiert, und sie hatte überempfindlich reagiert, indem sie jedes Wort aus seinem Mund als Kritik aufgefasst hatte. Sie hatte sich allein durch Superintendent Markbys Anwesenheit hier auf der Koppel aus der Fassung bringen lassen. Die Erkenntnis machte sie noch ärgerlicher.
Sie hatte seine Frage, warum sie sich für den Polizeidienst entschieden hatte, nur zur Hälfte beantwortet. Dauernd wurde sie von irgendwelchen Leute danach gefragt, und sie war inzwischen daran gewöhnt. Sie erzählte nur selten die ganze Geschichte, erstens, weil sie schwierig zu erzählen war, und zweitens, weil sie zu persönlich und beinahe unbedeutend klang – nur, dass an einem Tod nichts Unbedeutendes war.
Es war der Tod ihres Bruders gewesen. Der Fahrer hatte Fahrerflucht begangen, vor vielen Jahren. Ihr Bruder war damals zehn Jahre alt gewesen, sie selbst acht. Stevie war auf einen einfachen Botengang geschickt worden und nicht zurückgekehrt. Sie hatten nach ihm gesucht und seinen Leichnam gefunden, hoch oben auf einer grasbewachsenen Böschung, wo der Aufprall ihn hingeschleudert hatte.
Der Fahrer hatte sich kurze Zeit darauf gestellt. Er war auf seiner zuständigen Wache erschienen, zusammen mit seinem Anwalt, der seine Rechte schützen sollte. Er sagte aus, dass Stevie ihm vor den Wagen gelaufen wäre. Danach wäre er geflüchtet, weil er einen Schock erlitten hätte. Er war ein vollkommen unbeschriebenes Blatt, sagte sein Anwalt, und wies darauf hin, dass sein Mandant durch den Unfall zutiefst erschüttert wäre und der Familie sein tief empfundenes Beileid auszusprechen wünschte. Es war ein geschickter Schachzug gewesen, sich selbst zu stellen, nachdem er einen Anwalt gefunden und sich die Geschichte zurechtgebogen hatte. Es machte einen guten Eindruck vor Gericht, und die Richter glaubten ihm. Es hatte keine Zeugen gegeben. Er hatte Reue für sein Verhalten demonstriert.
Ihre Tante hatte ihr den Mann gezeigt, als sie draußen vor dem Gerichtsgebäude im Auto der Familie gesessen und darauf gewartet hatten, dass ihre Eltern zurückkamen.
»Das ist er!«, hatte Tante Jenny gesagt. Amanda hatte einen großen, selbstbewussten jungen Mann gesehen, mit ersten Ansätzen von Fettpölsterchen um das Kinn und die Hüfte herum. Sein unsteter Blick aus blauen Augen war auf den Wagen und seine Insassen gefallen, und Amanda hatte mit dem unfehlbaren Instinkt eines Kindes gewusst, dass er ein Lügner war. Sie hatte es auch so gewusst, weil Stevie immer sehr vorsichtig gewesen war, wenn er eine Straße überquert hatte. Er hatte sie stets ermahnt, Fußgängerüberwege zu benutzen, den Knopf zu drücken und auf den grünen Mann in der Ampel zu warten. Wenn es keinen Überweg gibt, sieh zuerst nach links, dann nach rechts und wieder nach links, bevor du die Straße überquerst, hatte er zu ihr gesagt. Selbst heute noch, nach all den Jahren, hörte sie im Geiste seine kindliche Stimme, die ihr einen Vortrag über das richtige Verhalten auf der Straße hielt, während er sie fest an der Hand hielt.
Eine Woche nach der Verhandlung war die Mutter einer Freundin mit Amanda und ihrer eigenen Tochter zum Einkaufen gegangen. Als sie mit dem vollen Einkaufswagen über den Parkplatz vor dem Supermarkt gegangen waren, hatte Amanda ihn wiedergesehen. Sie waren geradewegs auf ihn zugegangen. Die Mutter der Freundin erkannte ihn nicht, und er erkannte Amanda nicht. Sie war nur ein Kind für ihn, eines von vielen. Er hatte sich mit ein paar Freunden unterhalten, die mit ihm zusammen vor seinem Wagen gestanden hatten. Einem Wagen mit einem nagelneuen Scheinwerfer und einer Beule im Kotflügel, die immer noch zu sehen war. Dem Wagen, der Stevie umgebracht hatte. Sie hatten dort gestanden und gelacht und Witze gemacht. Der Richter hatte ihm nicht einmal den Führerschein entzogen. Nicht, dass Amanda damals viel über Führerscheine gewusst hätte – doch heute wurde es ihr umso deutlicher bewusst, wenn sie daran dachte.
Der Schmerz war geblieben. In all den Jahren hatte er nicht nachgelassen. Sie zuckte immer noch jedes Mal zusammen, wenn sie daran dachte. Es war ihm vollkommen egal gewesen. Nichts auf der Welt interessierte ihn weniger. Er war ungeschoren davongekommen. Er war in seinen Wagen gesprungen, auf jenem Parkplatz, und davongerast, ein richtiger Halbstarker. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, doch sie hatte schon damals gedacht, wenn ich der Verantwortliche gewesen wäre, wenn ich der Polizist gewesen wäre, der zu uns nach Hause gekommen ist, um zu berichten, was geschehen war, oder wenn ich auf dem Richterstuhl gesessen hätte an jenem Tag, ich hätte die Wahrheit herausgefunden!
Sie erzählte diese Geschichte so gut wie nie, weil sie klang, als hätte sie einen persönlichen Groll, eine offene Rechnung zu begleichen und als wäre dies der Grund für ihre Berufswahl gewesen. Es ließ auf jene Sorte von Polizeibeamten schließen, die engstirnig zu Werke gingen, die sich auf einen einzigen Verdächtigen fixierten und ihn festzunageln versuchten, koste es, was es wolle. So war sie nicht. Sie wusste, dass man sich auf diese Weise zu Fehlern hinreißen ließ.
Sie konnte sich keine Fehler leisten. Zu viele Leute warteten darauf, dass sie stolperte. Nicht Sergeant Morris, der ihr nun entgegenkam, nein. Morris war ihr zuerst mit Misstrauen begegnet, doch sie hatten sich seither arrangiert und kamen miteinander aus. Sie hatten bei mehreren Fällen zusammengearbeitet, und dabei war gegenseitiger Respekt entstanden. Manchmal behandelte Morris sie zu ihrer geheimen Belustigung wie eine Lieblingsnichte. Er zeigte alle Anzeichen eines stolzen, beschützenden Onkels, der sich hin und wieder sorgte und stets davon ausging, dass sie alles richtig machte.
Was nicht bedeutete, dass er erwartete, sie würde stets beim ersten Mal alles richtig machen. Ganz im Gegenteil. Er hatte die Angewohnheit, zurückhaltend in die Faust zu hüsteln und
»Entschuldigung, Ma’am« zu murmeln, wenn er der Meinung war, dass sie sich vergaloppiert hatte und auf dem Holzweg war. Doch wie ein frühreifes Kind wusste sie ganz genau, dass man von ihr erwartete, so lange zu üben, bis sie ihre Kunst gemeistert hatte, um anschließend sämtliche Prüfungen mit fliegenden Fahnen zu bestehen. Sie hatte keine Angst, sich vor Morris zu irren – sie hatte ihm längst bewiesen, was sie konnte –, doch sie machte sich Sorgen wegen Superintendent Markby.
In Gedanken murmelte sie laut vor sich hin.
»Wir müssen diese Mordwaffe bald finden!«
»Wir werden sie finden, Ma’am, keine Sorge«, versicherte Morris ihr beruhigend.
»Es ist nur ein Dorf, und es gibt nicht so viele Möglichkeiten, wo sie versteckt sein könnte. Ich verrate Ihnen etwas über die Landbewohner. Sie werfen nichts weg. Sie sind richtige Jäger und Sammler, wie sie im Buch stehen. Wenn es ein gutes Messer ist, wirft man es nicht weg. Man versteckt es vielleicht, aber wegwerfen? Niemals!« Amanda Crane hoffte sehr, dass Sergeant Morris Recht behalten würde.
»Wir haben heute diese italienische Sache«, sagte Mervyn Pollard.
»Alles in einer Schale. Lasagne nennen sie es, die Italiener.«
»Wir warten noch, bis Mr Markby kommt«, erwiderte
Wynne.
»Oder den üblichen Imbiss aus Käse, Brot und Mixed Pickles«, fuhr Mervyn fort, als hätte Wynne nichts gesagt.
»Außerdem noch ein paar Hühnchenpasteten, und wir haben eine Puddingkarte. Wir haben Aprikosenstreusel, Eiskrem und eine nagelneue Spezialität.«
»Und was ist das für eine Spezialität?«, erkundigte sich Meredith, indem sie dem rücksichtslosen Zählappell von Delikatessen nachgab.
»Sie nennen es Mississippi Schlammkuchen«, antwortete Mervyn.
»Eigenartiger Name, wie? Besteht hauptsächlich aus Schokolade.«
»Machen Sie die Speisen hier an Ort und Stelle?«, erkundigte sich Meredith hingerissen.
»Nein. Kommt alles in großen Portionen vom Eismann. Ich bin gleich wieder da, um Ihre Bestellungen aufzunehmen, sobald Ihr Freund gekommen ist.«
»Was ist aus seinen selbst gemachten Speisen geworden?«, fragte Wynne, nachdem der Gastwirt sich getrollt hatte.
»Ich möchte im Augenblick lieber nicht über selbst gemachtes Essen nachdenken«, entgegnete Meredith im Hinblick auf die Küche der Berrys.
»Wenn ich das richtig sehe, versucht Mervyn, den durchreisenden internationalen Tourismus anzulocken.«
»Glauben Sie eigentlich immer noch, dass es Mervyn war, den Sie dort draußen gesehen haben?«, fragte Wynne ein wenig unsicher.
»Ich bin absolut sicher. Alan ist da anderer Meinung.« Wie auf ein Stichwort hin kam Alan durch die Tür und setzte sich zu ihnen.
»Wo bin ich anderer Meinung?«, fragte er.
»Wenn du damit andeuten möchtest, dass ich immer noch zweifle, dass du weißt schon wer die Person war, die wir du weißt schon wo gesehen haben, dann kann ich nur wiederholen, dass ich niemanden anhand einer Silhouette vor dunklem Himmel aus einer Entfernung von hundert Me tern zu identifizieren vermag.« Ein älterer Mann an einem Nachbartisch, der über seinem Pint kauerte, brummte laut:
»In meiner Jugend hat es dieses fremdländische Zeugs nicht in den Pubs gegeben.«
»Ich nehme an, es gab nur Wurstbrötchen und Pastetchen«, sagte Wynne und lenkte von der Frage der ungewöhnlichen nächtlichen Aktivitäten des Gastwirts ab.
»Nein, nichts dergleichen! Wir hatten ein großes Glas mit Mixed Pickles auf dem Tresen. Sonst nichts, nur Mixed Pickles. Außer manchmal eingelegten Eiern. Aber das gab es eher selten.«
»Sie müssen zugeben«, flüsterte Meredith zu Wynne, »der Eismann hat so seine Vorteile.«
»Dann haben sie angefangen, Kartoffelchips zu verkaufen.« Der Alte schwelgte in seinen Erinnerungen.
»Nicht die schicken Chips, die man heute kriegt, o nein. Ganz einfache, ungesalzene. Das Salz kam in kleinen blauen Tütchen daher.«
»Richtig«, pflichtete Wynne ihm bei.
»Ich erinnere mich.«
»Heute haben sie ganz andere Chips. Modisches Zeugs«, beharrte der Alte.
»Sie haben Chips mit Käse und Chips mit Hühnchen und was weiß ich. Einige sollen sogar nach Igel schmecken.«
»Sind Sie da sicher?«, fragte Meredith ungläubig.
»Fragen Sie doch Mervyn hinter der Theke. Er hat Chips, die nach Igel schmecken.«
»Nicht«, flehte Wynne.
»Fragen Sie ihn nicht.«
»Und wie seid ihr mit dem Jungen zurechtgekommen?«, erkundigte sich Markby, indem er den ältesten Einwohner von Parsloe St. John entschlossen ignorierte.
»Ist der Junge wohlauf?«
»Einigermaßen«, antwortete Wynne.
»Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, jedenfalls für den Augenblick. Wir kümmern uns darum.« Ihrem Tonfall entnahm Markby, dass sie nicht über Kevin reden wollte, zumindest nicht hier im Pub, wo tausend neugierige Ohren lauschten. Mervyn kam zu ihrem Tisch zurück.
»Haben Sie schon ausgewählt?«, fragte er. Sie bestellten zweimal Lasagne und einmal den Imbiss.
»Tut mir Leid«, sagte Meredith.
»Aber ich glaube nicht, dass ich im Augenblick etwas Warmes runterkriegen würde.« Das Lokal füllte sich schnell, und es wurde bald klar, welches das Thema des Tages war. Wynne hatte Recht gehabt, dachte Meredith, Kevin Berry nicht zu erwähnen. Viele der Gäste waren offensichtlich nur aus dem einen Grund gekommen: herauszufinden, ob es Neuigkeiten gab. Mervyn trottete in ihre Richtung, in der einen Hand die kalte Platte, in der anderen einen Korb mit kleinen Brötchen.
»Du hast einen guten Kunden verloren, Mervyn«, sagte der Alte vom Nachbartisch unerwartet, während der Wirt den Korb in die Mitte des Tisches stellte und anschließend den Teller mit dem Imbiss. Er war mit einer halben Tomate und einem Salatblatt garniert.
»Das habe ich in der Tat«, sagte Mervyn.
»Er hat gerne das ein oder andere Pint getrunken, unser Ernie«, kicherte der Alte.
»Das hat er«, räumte Mervyn ein und schnitt eine Grimasse in Richtung der anderen Einheimischen.
»Wahrscheinlich gehst du jetzt pleite, Mervyn.« Der Alte drohte vor Lachen einen Erstickungsanfall zu erleiden.
»Du musst schließen, ganz bestimmt, nachdem Ernie Berry nicht mehr all sein Geld hierher tragen kann!«
»Ich hab ja immer noch dich«, gab Mervyn zurück.
»Du trägst ja ebenfalls deine Pension zu mir.«
»Meine Rente kommt doch längst nicht an das Geld ran, das Ernie hier drin versoffen hat«, erwiderte der Alte.
»Und bei den Bierpreisen!«
»Um Himmels willen, bringen Sie ihm ein Pint auf meine Rechnung, Herr Wirt!«, sagte Markby. Das Gehör des Alten funktionierte einwandfrei.
»Danke sehr, Sir!«, rief er Markby zu.
»Sie sind ein wahrer Gentleman, wenn ich das so sagen darf.« Er schob Pollard sein leeres Glas hin.
»Hier, Mervyn, mach es wieder voll, genau wie es der Gentleman gesagt hat!« Mervyn packte das Glas mit seiner riesigen Pranke und trottete zum Tresen zurück. Als er dort ankam, ging ein Raunen durch das Lokal. Köpfe drehten sich zur Tür. Markby blickte auf und sah, dass Amanda Crane eingetreten war und zur Theke ging. Köpfe wurden zusammengesteckt, und überall wurde geflüstert. Das ganze Dorf wusste, wer sie war.
»Sie ist eine Adrette«, sagte der Alte anerkennend. Crane wandte sich von der Theke ab und kam zu ihrem Tisch. Sie trug ein Glas in der Hand. Blicke folgten ihr, und erneut hörte Markby die Dorfbewohner tuscheln.
»Kommen Sie, um uns Gesellschaft zu leisten, Inspector?«, fragte Markby und erhob sich.
»Danke, nein, ich habe nicht so viel Zeit. Ich habe den Wirt gebeten, mir ein paar Sandwiches zum Mitnehmen zu machen.« Sie hob ihren Tomatensaft.
»Zum Wohl. Wie sind Sie heute Morgen in diesem Cottage zurechtgekommen, Mrs Carter?«
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, antwortete Wynne.
»Ich habe alles im Griff, wie man so schön sagt.«
»Sehr gut. Geht es Ihnen heute ein wenig besser, Miss Mitchell?«
»Sehr gut, danke. Nennen Sie mich doch Meredith.«
»Hey!«, rief der Alte vom Nebentisch.
»Haben Sie schon rausgefunden, wer Ernie abgemurkst hat?«
»Noch nicht«, antwortete Inspector Crane förmlich.
»Wir arbeiten noch daran.«
»Sie hätten ihm bestimmt gefallen«, sagte der Alte.
»Sie hätten Ernie ganz bestimmt gefallen. Er mochte gut aussehende Frauen.« Zotiges Gelächter ging durch den Raum. Crane errötete. Glücklicherweise erschien in diesem Augenblick die Kellnerin mit dem Baumwollhemd und dem vielen baumelnden Schmuck. Sie durchquerte das Lokal mit den dampfend heißen Lasagnetellern, die sie mit Topflappen vor sich hertrug.
»Passen Sie bloß auf!«, empfahl sie und stellte die Teller krachend ab.
»Sie sind heiß. Kommen direkt aus der Mikrowelle. Ich hab Ihre Sandwiches fertig, Miss. Drüben an der Theke.«
»Ich lasse Sie jetzt allein«, verabschiedete sich Crane mit einem schiefen Blick in die Runde.
»Bon appetit!« Ein weiteres Raunen folgte ihrem Abgang. Es war Freitagmittag, ein Mittag, der später als Ruhe vor dem Sturm in der Erinnerung haften bleiben sollte.
Es begann alles ganz harmlos, am frühen Freitagnachmittag, kurz bevor Mervyn sein Pub bis zum frühen Abend schloss. Ein fremder Wagen tauchte in Parsloe St. John auf, in dem zwei junge Männer mit scharf geschnittenen Gesichtern saßen. Kurz darauf folgte ein zweiter Wagen, der von einer jungen Frau in einem roten Overall gesteuert wurde. In ihrer Begleitung befand sich ein stoppelbärtiges Individuum mit einem Ausdruck akuter Langeweile im Gesicht und einer teuren Fotoausrüstung im Gepäck. Nicht lange danach war die Hauptstraße voller Wagen, die Londoner Kennzeichen trugen. Die Presse war vor Ort eingetroffen.
Gegen genau diese Sorte von Invasionen aus der Außenwelt waren die Kirche und die Abtei befestigt worden, vor langer, langer Zeit. Das Parsloe St. John der Moderne war unvorbereitet und hatte dem Ansturm nichts entgegenzusetzen. Wie eine mittelalterliche Horde von Plünderern streunten die Journalisten durch das Dorf. Sie jagten einzeln und in Rudeln. Sie schwenkten Notizblocks und Diktiergeräte und schwatzten in Mobiltelefone. Sie grüßten sich gegenseitig mit der zwanglosen Formlosigkeit alter Bekannter, gefolgt von vorsichtigen Erkundigungen, was denn der jeweils andere bis jetzt so herausgefunden hatte und ob eine konkurrierende Truppe schon weiter war.
»Versuch es im Pub!«, rieten sie sich gegenseitig und stürmten die Oase des King’s Head wie ein Schwarm Heuschrecken, der seit Wochen nichts mehr zu fressen gefunden hatte. Mervyn Pollard beschloss geschäftstüchtig, seine nachmittägliche Ruhepause diesmal ausfallen zu lassen, und sagte seiner Kellnerin, dass sie ihren freien Nachmittag ebenfalls vergessen konnte. The King’s Head würde an diesem Freitagnachmittag geöffnet bleiben.
»Nun«, sagte Meredith, die auf dem Fenstersims in ihrem Cottage saß und das Rudel von Journalisten draußen auf der Straße beobachtete, das wie Bluthunde durch die Gegend schweifte auf der Suche nach geeigneten Interviewopfern.
»Mervyn wollte ja immer mehr Tourismus in der Gemeinde haben.«
»Aber nicht von dieser Sorte, würde ich meinen«, entgegnete Markby.
»Komm da weg, bevor dich jemand sieht und herkommt, um an unsere Tür zu klopfen oder sie gleich ganz einzutreten. Die erste Frage lautet mit Sicherheit: ›Wer hat die Leiche gefunden?‹«
Seine Vermutung erwies sich bald als prophetische Aussage. Ein wildes Hämmern erklang an der Tür, dann tauchte ein Gesicht am Fenster auf, schnitt eine Grimasse und hielt einen Kassettenrekorder hoch.
Als weder Markby noch Meredith reagierten, wurde die Klappe des Briefschlitzes geöffnet, und eine Stimme rief in den Flur:
»Miss Mitchell, könnten wir uns für einen Augenblick unterhalten?«
Alan hängte den Telefonhörer aus, und sie zogen sich nach oben zurück. Als die Luft für kurze Zeit rein zu sein schien, schlüpften sie nach draußen auf die Straße. Im King’s Head hatte anscheinend auch Mervyn die Nase voll. Mit vom Zapfen schmerzenden Armen und vom Beantworten der unzähligen Fragen rauer Kehle hatte er die Tür zu seinem Pub von innen verriegelt. Ein Schild im Fenster verkündete, dass das King’s Head für den Rest des Tages geschlossen bliebe. (Die Buschtrommeln jedoch verkündeten den Stammgästen, dass dies nicht für sie galt. Sie erhielten selbstverständlich am Abend Einlass, wenn sie an die Hintertür klopften und sich Mervyn zu erkennen gaben.)
Die meisten Bewohner von Parsloe St. John waren Mervyn Pollards Beispiel gefolgt und hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert. Wer draußen überrascht wurde, tat, als wüsste er von überhaupt nichts, oder stellte sich ganz einfach taub. Ein paar geschäftstüchtige Jüngere verlangten unrealistische Beträge für ihre schlagzeilenträchtigen Informationen. Diese Geschäfte unterblieben bald, nachdem die mit allen Wassern gewaschenen Reporter herausfanden, dass die Überbringer dieser faszinierenden Geschichten mehr Fantasie als harte Fakten lieferten. Falls die Bewohner von Parsloe St. John irgendetwas wussten, dann behielten sie es eisern für sich.
Meredith und Alan wehrten mehrere Annäherungsversuche ab und suchten schließlich im Nachbarcottage bei Wynne Zuflucht. Wynne Carter ihrerseits war ganz leicht durch das wilde Geklapper einer alten mechanischen Schreibmaschine zu orten. Sie saß über das antike Gerät gebeugt, als Markby und Meredith sie fanden. Der Boden ringsum war übersät mit herausgefallenen Haarnadeln.
»Ich kann jetzt unmöglich aufhören, meine Lieben, das müssen Sie doch verstehen! Die anderen schnappen mir die Geschichte unter der Nase weg! Parsloe St. John ist mein Dorf, und das ist meine Geschichte!«
»Nicht mehr!«, entgegnete Alan. Gemeinsam mit Meredith machte er sich diskret in Richtung der Felder auf, zu einem langen und mit ein wenig Glück ungestörten Spaziergang. … Worauf er mit dem Degen, mit blutig bösem Degen …
William Shakespeare: Ein Sommernachtstraum
KAPITEL 17
AM SAMSTAGMORGEN kehrte Markby mit einem Arm voller Zeitungen von dem winzigen Postamt, das gleichzeitig der einzige Zeitschriftenladen im Dorf war, zurück.
»Du hättest dir das Gedränge ansehen sollen!«, schimpfte er atemlos.
»Es gibt fast keine einzige Zeitung mehr zu kaufen!«
Sie breiteten die Zeitungen auf dem Fußboden aus.
»Ach du meine Güte!«, sagte Meredith.
»Ich glaube nicht, dass die Bürger von Parsloe St. John das gerne lesen werden!«
»BRUTALER MÖRDER ZERSTÖRT DIE VERTRÄUMTE RUHE EINES IDYLLISCHEN DORFES«, las Alan laut vor.
»Das hier ist noch schlimmer«, antwortete Meredith.
»Hör zu: RITUALMORD INMITTEN EINER FRIEDLICHEN IDYLLE.« Sie legte die Zeitung weg.
»Alan, glaubst du, es könnte sich tatsächlich um einen Ritualmord gehandelt haben?«, fragte sie ernst.
»Woher soll ich das wissen? Es ist jedenfalls eine gute Schlagzeile, ob es nun stimmt oder nicht. Oh, und hier ist Wynnes Artikel. MÖRDERDORF: EINE INSIDERIN MELDET SICH ZU WORT. Hmmm. Nichts von dem, was sie geschrieben hat, wird den Wert der Grundstücke retten!«
»Alan!«, beharrte Meredith.
»Das könnte eine schlimme Geschichte für Sadie Warren und all die anderen werden! Wenn eine Geschichte wie diese erst einmal gedruckt ist, glauben die Leute jedes Wort davon.«
»Das ist Inspector Cranes Problem, nicht meines«, entgegnete Markby herzlos.
Doch so leicht sollten sie nicht davonkommen. Am späten Vormittag rief Markbys Schwester Laura an, vorgeblich in ihrer Eigenschaft als Miteigentümerin des Cottages und als Verwandte der gegenwärtigen Mieter. Sie kündigte ihren Besuch in Parsloe St. John an.
»Ich dachte, wir kommen morgen früh vorbei und essen mittags zusammen, wenn ihr nichts dagegen habt. Sag nur, falls ihr schon andere Pläne geschmiedet habt, Alan.«
»Nein, nein, überhaupt nicht!«, sagte Alan in den Hörer, während er verzweifelt versuchte, Meredith auf das Gespräch aufmerksam zu machen.
»Es ist euer Cottage, Laura. Allerdings halte ich es für keine gute Idee, hier zu kochen. Wir können ja alle zusammen in das Pub gehen. Ich glaube, Pollard hat inzwischen wieder geöffnet. Anscheinend haben ihm die Presseleute mit ihren unentwegten Fragen Angst gemacht; er hat das King’s Head Pub jedenfalls fürs Erste geschlossen.«
»Oh, darüber müsst ihr euch nicht den Kopf zerbrechen! Wir bringen alles mit, was wir brauchen! Paul wird einen Picknickkorb zusammenstellen. Wir haben Emily bei einer Freundin untergebracht. Die beiden Älteren sind wieder zurück in der Schule. Wir bringen nur Vicky mit, sonst niemanden.«
»Ich schaffe alles Zerbrechliche beiseite«, versprach Alan.
»Sie hat sich sehr gebessert, Alan! Ich denke, die Vorschule hat sehr geholfen. Wir bleiben nicht bis zum Abend. Aber wir dachten, nach allem, was wir in den Nachrichten gehört haben, wir müssten kommen …«
Er legte den Hörer auf die Gabel zurück und drehte sich zu Meredith um.
»Vermutlich hätten wir damit rechnen müssen«, sagte er.
»Du wirst mitbekommen haben, dass wir Besuch empfangen. Laura, Paul und eine ihrer Töchter. Morgen Mittag. Paul bringt das Mittagessen mit.«
»Gut«, murmelte Meredith vom Sofa her, wo sie mit hochgelegten Beinen ruhte.
»Gut, dass sie kommen, oder gut, dass sie wenigstens das Essen selbst mitbringen?«
»Beides. Ich glaube nicht, dass Paul die Speisekarte von Mervyn gutheißen würde, alles vom Eismann und in der Mikrowelle aufgewärmt … außerdem habe ich für eine Weile genug vom Essen im Pub.« Markbys Schwager war ein ausgebildeter Koch. Er hatte eine Hotelfachschule besucht und für eine Weile in berühmten Restaurants gearbeitet. Dann hatte er im Regionalfernsehen eine Sendung gemacht und war in der Folge zu bescheidenem Ruhm gelangt. Seine Kochbücher verkauften sich – auch aufgrund der Serie – von Jahr zu Jahr besser, auch wenn sie stets im Schatten größerer kulinarischer Leuchten blieben. Im Großen und Ganzen jedoch war Paul ein glücklicher Mann, der seine Tage damit verbrachte, in der eigenen Küche zu tüfteln oder vor Gruppen von Frauen seine Kochkunst zu demonstrieren, wenn er nicht gerade am nächsten Buch schrieb oder die nächste Folge seiner Fernsehreihe drehte. Seine Frau Laura, Markbys Schwester, war Teilhaberin in einer gut gehenden Anwaltskanzlei in Bamford. Sie vertraten das Gesetz auf verschiedene Weise, was zu gelegentlichen Reibereien führte, doch im Allgemeinen kamen sie gut miteinander aus. Meredith und Laura hatten sich von Anfang an blendend verstanden. Wenn Markby eine leichte Anspannung ob des bevorstehenden Besuchs verspürte, dann ausschließlich wegen seiner Nichte Vicky. Er mochte alle Kinder von Paul und Laura, und das schloss auch die kleine Vicky ein. Das Dumme war nur, dass Vicky, vier Jahre alt und mit einem engelsgleichen Aussehen gesegnet, ein Geschick hatte wie ein Elefant im Porzellanladen. In ihren kleinen Händen hielt nichts lange. Nicht einmal wirklich robuste Dinge, die eigentlich kindersicher sein sollten. Ihre älteren Geschwister hatten schnell gelernt, ihre Siebensachen vor der kleinen Schwester in Sicherheit zu bringen, wenn ihnen etwas daran lag. Das Baby Emily stand bereits im Begriff herauszufinden, dass nicht einmal ihre weichen Kuscheltiere vor Vicky sicher waren, und plärrte los, sobald die ältere Schwester eins davon in die Hand nahm. Bevor sie an jenem Abend schlafen gingen, brachten sie alle kleinen, zerbrechlichen Dinge außer Reichweite und in Sicherheit. Als Meredith diesmal in den frühen Morgenstunden erwachte, war sie sofort hellwach und alarmiert. Sie setzte sich auf. Diesmal kamen keine merkwürdigen Geräusche von draußen. Diesmal waren die Geräusche, daran bestand kein Zweifel, aus dem Haus gekommen.
»Alan?« Sie rüttelte Markby an der Schulter.
»Alan, jemand ist im Haus!«
»Bist du sicher?«, fragte eine dumpfe Stimme unter der Bettdecke, die sich nur sehr ungern aus dem Schlaf reißen ließ.
»Natürlich bin ich sicher! Du bist Polizist! Du könntest wenigstens Interesse heucheln!« Neben ihr tauchte ein Kopf unter der Bettdecke auf.
»Ich kann nichts hören«, sagte er mürrisch.
»Ich aber.« Meredith dachte nach.
»Ich habe es gehört. Ich bin davon wach geworden.«
»Wahrscheinlich hast du nur wieder schlecht geträumt.« Sie wollte seine Unterstellung gerade zurückweisen, als aus der Küche ein lautes metallisches Klappern kam. Und was ist das?, wollte sie fragen. Habe ich das etwa auch geträumt? Doch sie kam nicht dazu. Alan war bereits aus dem Bett und auf dem Weg zur Schlafzimmertür. Sie warf die Decke zur Seite und wollte ihm folgen.
»Bleib da, Meredith!«
»Bestimmt nicht!«
»Dann sei wenigstens leise, um Himmels willen!« Das wurmte sie enorm. Er wollte ihr den Eindringling wegschnappen. Zuerst zeigte er keinerlei Interesse, dann riss er die Angelegenheit an sich. Das war wieder einmal typisch männlich. Alan hatte unterdessen die Schlafzimmertür geöffnet. Das Cottage schien den Atem anzuhalten, obwohl es Meredith selbst war, wie sie schnell erkannte, die nicht zu atmen wagte. Aus der Küche ertönte ein weiteres Klappern, als wäre Blechgeschirr gegeneinander gestoßen.
»Taschenlampe?«, flüsterte Alan leise neben ihr. Meredith kehrte in das Zimmer zurück und kramte in ihrer Tasche, die auf einem Stuhl lag. Kurze Zeit darauf kehrte sie mit einer kleinen Taschenlampe zurück, die sie immer bei sich führte. Sie schlichen die Treppe hinunter wie Indianer, allerdings mit bedeutend weniger Geschick. Die alten Holzstufen knarrten laut. Allerdings schien sich der Eindringling in der Küche davon nicht stören zu lassen. Er klapperte noch immer lautstark mit Geschirr und Töpfen, oder wenigstens klang es so. Dann gab es einen plötzlichen, extrem lauten Knall. Alan sprang zur Küchentür, stieß sie auf und schaltete das Licht ein. Die Hintertür stand weit offen und ließ kalte Nachtluft herein. Die Küche bot ein Bild der Verwüstung. Sämtliche Schränke standen offen, jedes Glas und jede Dose waren umgekippt und der Inhalt entweder über den Boden oder das Mobiliar und die Arbeitsflächen verstreut. Der Kühlschrank stand gleichermaßen offen und war geleert worden. Der Motor brummte wie verrückt in dem Bemühen, die entweichende Kälte wiederherzustellen. Verschüttete Cornflakes knirschten unter ihren Schritten. Mehl stieg in weißen Wolken auf. Milch tropfte von der Arbeitsplatte. Und mitten in alledem saß Nimrod, Wynnes Kater, und gab sein Bestes, um an den Inhalt einer transparenten Plastikpackung mit Würstchen heranzukommen. Als Markby und Meredith in den Raum stürmten, blickte er verärgert über die Störung auf und fauchte. Alan fluchte lästerlich und rannte weiter zur Hintertür. Er war sofort wieder zurück.
»Wer auch immer es war, er ist längst über alle Berge. Das hier ist wenigstens vor einer halben Stunde passiert, wenn nicht noch früher, und wir haben nichts von alledem gehört! Sieh dir die Dose mit Sirup an. Sie liegt auf der Seite und hatte genügend Zeit, um völlig auszulaufen. Nimrod fand die offene Tür und kam herbei, um sich die Sache anzusehen. Er war es, der die Geräusche verursacht hat. Er muss denken, es ist Weihnachten! Sieh ihn dir an!«
»Wer war das?«, fragte Meredith voller Bestürzung.
»Und warum?« Ihr kam ein erschreckender Gedanke.
»Alan, was ist mit Wynne?«
»Wir rufen sie an – nein, warte! Ich gehe selbst rüber und sehe nach.« Er rannte die Treppe hinauf und kehrte Minuten später in Hosen und Pullover zurück. Er ging nach draußen und sah sich im Garten um. Der unzureichend schwache Schein der Taschenlampe glitt flackernd über Büsche und Baumstämme. Dann ging Markby zur Seite und um das Haus herum. Nimrod hatte sich in der Zwischenzeit mit unverminderter Konzentration seinen Würstchen gewidmet, und endlich war es ihm gelungen, das Plastik aufzubeißen. Er zerrte den Inhalt der Verpackung in einer langen rosafarbenen Kette hinter sich her nach draußen. Die Würstchen sahen aus wie Eingeweide.
»Husch, weg mit dir!« Meredith klatschte in die Hände.
»Nimm die elenden Würstchen und verschwinde, husch!« Nimrod rannte in den Garten hinaus und verschwand in der Dunkelheit. Die Würstchenkette tanzte und hüpfte hinter ihm her. Meredith drehte sich um. All die Arbeit, die sie sich am Abend wegen des bevorstehenden Besuchs am nächsten Tag gemacht hatten, war umsonst gewesen. Ihr fiel ein, dass sie noch nicht im Wohnzimmer nachgesehen hatten. Sie verließ die Küche und ging durch den Flur in den großen Raum. Sie schaltete das Licht ein.
»Heilige Schande!«, entfuhr es ihr. Der Einbrecher war also auch in diesem Zimmer gewesen. Er hatte die Kissen von den Sesseln und vom Sofa gerissen und mit einem Messer aufgeschlitzt. Federn waren herausgequollen und lagen überall verstreut, als hätte jemand Hühner gerupft und geschlachtet. An die Wand hatte der Einbrecher in unsicheren roten Druckbuchstaben das Wort
»Toc« geschmiert, was den Eindruck noch verstärkte. Meredith nahm an, dass er
»Tod« hatte schreiben wollen und entweder gestört worden war oder wegen der Dunkelheit den Strich des
»d« vergessen hatte. Die rote Schrift erinnerte so stark an Blut, dass Meredith für einen Augenblick befürchtete, sie würde ohnmächtig – was ihr in ihrem ganzen Leben bisher nur ein einziges Mal widerfahren war. Sie wurde nicht ohnmächtig. Sie riss sich mit aller Macht zusammen und näherte sich der blutigen Botschaft, um sie aus der Nähe zu betrachten. Vorsichtig berührte sie den Querstrich des
»T« und roch an ihrem Finger. Himbeermarmelade. Sie war so unendlich erleichtert, dass sie trotz der trostlosen Umstände laut auflachte. Sie hörte Alans Stimme draußen vor Wynnes Schlafzimmer. Er rief zu ihr hinauf. Nach einer Weile kündigten Schritte auf kiesigem Untergrund seine Rückkehr an. Wynne hechelte hinter ihm her; sie trug diesmal einen exotischen königsblauen Morgenrock, der mit orientalisch aussehenden Stickereien übersät war.
»Meredith? Ach du meine Güte, was für eine Schweinerei! Wir haben bei mir nachgesehen, aber es war kein Einbrecher in meinem Haus. Wer macht denn nur all diese schrecklichen Dinge?« Meredith deutete auf die blutrote Botschaft an der Wand.
»Erkennen Sie vielleicht diese Handschrift, Wynne?«, fragte sie.
»Nein, nicht anhand von drei Buchstaben! Was ist das? Doch wohl nicht …?«
»Nein, es ist Marmelade.«
»Gott sei Dank.« Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie mit Aufräumen. Die Kissen konnten sie nicht flicken; sie sammelten so viele Federn auf, wie nur irgend möglich, stopften sie zurück in die Füllungen und legten Handtücher über die Schlitze. Das Schloss der Hintertür war hin; jemand hatte sie einfach aufgebrochen.
»Nicht weiter schwierig«, sagte Markby.
»Es ist ein einfaches Schloss, und es hat nicht besonders gut geschlossen. Ich lasse es gleich morgen Früh reparieren. Max Crombie hat bestimmt jemanden an der Hand, den er zu uns schicken kann.« Es war inzwischen sechs Uhr in der Frühe, und die Sonne war längst aufgegangen.
»Glücklicherweise haben wir den Tee in Beuteln«, sagte Meredith.
»Ich mache uns ein paar Tassen.«
»Sie kommen besser zum Frühstücken rüber zu mir«, entschied Wynne.
»Es ist sowieso schon fast Zeit.«
Die Danbys platzten lärmend in das Cottage, und für einen kurzen Moment herrschte Chaos. Paul hatte den Picknickkorb unter dem Arm. Es war kurz nach halb zwölf.
»Hallo zusammen, alles in Ordnung? Das hier wird euch aufmuntern. Ich habe gebratenes Hühnchen mit einer Aprikosenfüllung, selbst gemachte Grosvenor Pie, Pilze in SherrySahnesoße mit Blätterteig-Pastetchen – sie sind noch gefroren und müssen bei großer Hitze im Backofen fertig gemacht werden –, dazu Salat, kleine Mürbeteig-Erdbeerküchlein und Käsesticker …« Er ging in die Küche, während er alles aufzählte.
»Wir haben die ganze Zeit nur Alans Omeletts und Mervyn Pollards Kuchen und Lasagne gegessen«, sagte Meredith zu ihm.
»Alans Omeletts sind doch prima«, erwiderte Paul großzügig.
»Was hingegen Mervyns Fraß angeht«, fügte er hinzu, »es spielt keine Rolle, was er auftischt, es schmeckt alles gleich. Mach die Augen zu beim Essen, und du weißt nicht mehr, ob du auf einem Hackfleischbraten, einem Hühncheneintopf oder auf einem von diesen Dingern kaust, die er optimistischerweise als Pudding anbietet!«
Er begann seinen Korb voller Delikatessen auszupacken.
»Ich habe Pollard schon wer weiß wie oft gesagt, dass ich ihm eine einfache Speisekarte mit Gerichten zusammenstellen könnte, die seine eigene Küche ohne jedes Problem zubereiten kann. Jede halbwegs geschickte Hausfrau könnte das. Ich würde nicht einmal etwas dafür nehmen. Ich würde es als meine gute Bürgerpflicht betrachten.
Weißt du, was er geantwortet hat …?« Paul verstummte zögernd mit einem in Folie eingewickelten Klotz in der Hand, wahrscheinlich der Grosvenor Pie.
»Er hat geantwortet, dass seine Kundschaft die ausländischen Spezialitäten eben mag! Was für Spezialitäten, habe ich ihn gefragt. Und wie er sie auswählt. Weißt du, was er tut? Er fährt zu diesem Eismann-Center und wählt sie nach den Bildern auf der Verpackung aus! Er hat nicht den leisesten Schimmer, was er anbietet! Der Mann ist ein kulinarischer Analphabet! Ich bezweifle, dass er selbst irgendetwas anderes als Brei und Würstchen isst. Hallo, was haben wir denn da?« Paul hatte die hin und her schwingende Hintertür entdeckt.
»Was ist denn mit der Tür passiert?«
»Wir hatten letzte Nacht einen Einbrecher im Haus«, berichtete Alan.
»Keine Panik – wir haben ihn nicht gestellt. Ich wünschte, wir hätten ihn erwischt. Crombie ist heute Morgen schon da gewesen, um nachzusehen, ob das Schloss repariert werden kann, und er hat zu einer neuen Tür geraten. Ich weiß, dass Bauunternehmer gerne übertreiben, um Geld zu verdienen, doch in diesem Fall denke ich, er hat Recht. Die alte Tür war völlig verzogen, deswegen war es für den Einbrecher ein Leichtes, das Schloss zu sprengen. Keine Sorge, ich werde den Schaden bezahlen.«
»Das wirst du selbstverständlich nicht! Meine Güte …!« Paul untersuchte die beschädigte Tür.
»Hat er etwas gestohlen?«
»Nein. Er hat alle Vorräte aus den Schränken und dem Kühlschrank geräumt und in der Küche verstreut und ein paar Sachen im Wohnzimmer zerstört. Du wirst es gleich sehen.«
Laura kam aus dem Wohnzimmer; sie hatte es bereits gesehen.
»Was um alles in der Welt ist mit den Kissen passiert? Hat jemand die Wand abgewaschen?«
Markby lieferte weitere Erklärungen ab.
»Nun ja, es ist nicht so schlimm. Es waren sehr alte Möbel; wir hätten sie so oder so irgendwann ersetzt. Solange nur euch nichts passiert ist. Ich muss schon sagen, es macht mir Angst!«
»Wenn Crombie heute Morgen schon hier war, dann weiß inzwischen das ganze Dorf Bescheid«, warf Paul ein. Vicky war unterdessen in den Garten spaziert, und als ihr Vater verstummte, hörten sie, wie sie mit strenger Stimme zu irgendjemandem sprach.
»Ich nehme dich mit ins Haus«, sagte sie mit klarer Kinderstimme.
»Stell dich nicht so an. Nein, du kommst sofort her und lässt dich von mir hochheben! Halt still, Katze! Ich will dich hochheben!«
»O nein, Nimrod!«, stöhnte Meredith auf.
»Ich glaube nicht, dass sie versuchen sollte, den Kater … er gehört wirklich nicht zu der Sorte, die …« Vicky kam durch die Hintertür in die Küche. Sie ächzte, als hätte sie schwer zu heben. Sie tauchte im Wohnzimmer auf. Nimrod hatte, wie es schien, seinen Meister gefunden. Vielleicht waren die vielen Würstchen schuld, die er gefressen hatte. Vielleicht hatten sie ihn schwerfällig gemacht. Vicky hatte ihn jedenfalls fest unter den Vorderbeinen gepackt und hielt ihn mit dem Rücken an die Brust gedrückt fest. Nimrod baumelte würdelos in ihrem Griff, die Vorderbeine nach oben gestreckt, sodass sie sein wütendes, zerquetschtes Gesicht einrahmten. Der Rest des Katers hing lang und schlaff herab. Der Bauch in der Mitte des fellüberzogenen Leibs wölbte sich deutlich sichtbar hervor. Voll gefressen mit Würstchen. Der Stummelschwanz, unfähig zu peitschen wegen fehlender Länge, zuckte wütend hin und her. Er sah aus wie einer dieser Füchse, die modebewusste edwardianische Frauen früher über den Schultern getragen hatten, komplett mit Kopf und böse dreinblickenden Glasaugen. Vicky stolperte mit ihm durch das Haus – Nimrod war ein schwerer Bursche, auch ohne die Würstchen im Bauch –, und es gelang ihr tatsächlich, ihre Trophäe ins Wohnzimmer zu schleifen, um sie allen zu zeigen.
»Ich habe diese Katze gefunden«, hechelte sie.
»Wir können sie mit nach Hause nehmen.«
»Das glaube ich nicht, Liebes«, erwiderte ihr Vater.
»Ich glaube, dieser Kater wohnt nebenan. Setz ihn besser wieder ab.« Vickys Gesicht war rot vor Anstrengung, und nun kam ein aufsässiger Ausdruck hinzu, der ihr Ähnlichkeit mit ihrem Gefangenen verlieh.
»Ich hab die Katze gefunden! Sie war in unserem Garten! Sie gehört mir! Wir können sie behalten!«
»Lass den Kater wieder runter, Liebes«, wiederholte Paul geduldig und wandte sich wieder seinem Picknickkorb zu. Er nahm das gebratene Hühnchen hervor und stellte es auf eine Platte. Nimrod, immer noch in Vickys Schwitzkasten, öffnete die Augen, soweit er dies in seiner Lage konnte, und seine Barthaare zuckten. Der Duft des gebratenen Hühnchens hatte ihn erreicht, und trotz seiner gegenwärtig eher misslichen Lage und seines immer noch prall gefüllten Magens erwachte sein Interesse.
»Das ist eine nette Katze!«, quengelte Vicky und schlug sich auf die Seite jener Minderheit, die sich zu Nimrods Bewunderern zählte. Der Streit mit ihrem Vater hatte sie unaufmerksam werden lassen, und ihr Würgegriff war schlaffer geworden. Nimrod schien sich zu verflüssigen. Er rutschte zwischen Vickys kleinen Händen hindurch und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden, wo er sich kurz sortierte, schüttelte und dann die Flucht ergriff.
»Komm zurück, Katze!«, kreischte Vicky ihm hinterher.
»Lass ihn gehen«, sagte ihr Vater friedlich.
»Und geh dir die Hände waschen, sei ein liebes Mädchen.«
»War das Wynnes Kater?«, fragte Laura, die in diesem Augenblick erneut das zerstörte Wohnzimmer betrat.
»Ich schlage vor, wir trinken eine Tasse Kaffee oder Tee, und dann gehe ich nach nebenan und frage sie, ob sie nicht Lust hat, mit uns zu Mittag zu essen.«
»Der Kaffee gehört zu den Dingen, die der Einbrecher auf dem Boden verstreut hat, Laura«, sagte Markby.
»Außerdem denke ich, dass ich im Augenblick lieber ein Glas Wein hätte.«
»Auch den haben wir mitgebracht!«, trumpfte Paul auf und brachte eine Reihe interessanter Flaschen zum Vorschein. Sie setzten sich ins Wohnzimmer und öffneten eine Flasche. Vicky bekam einen Karton mit Orangensaft und verschwand wieder draußen im Garten.
»So«, sagte Paul und hob sein Glas.
»Was macht das Verbrechen? Was habt ihr beide nur hier am Ende der Welt aufgescheucht? Als meine Tante Florrie noch in diesem Cottage gelebt hat, war das Dorf so tot wie ein Türnagel. Womit ich sagen will, dass nie irgendetwas passiert ist. Absolut überhaupt nichts. Keine Leichen, wohin man blickt. Keine Irren, die in Häuser eingebrochen sind. Welche faulen Geister habt ihr aus dem Schlaf geweckt?«
»Natürlich ist auch zu Zeiten deiner Tante schon das ein oder andere passiert«, entgegnete Meredith.
»Nur hat deine Tante entweder nichts davon gewusst, oder sie hat es dir nicht erzählt.« Paul trank einen Schluck von seinem Wein.
»Ich erinnere mich an Ernie Berry. Ein merkwürdiger Geselle. Er konnte fast alles reparieren, solange es nicht elektrisch war. Praktisch, jemanden wie ihn in der Nähe zu haben. Wenn ich mich recht entsinne, hat er für Tante Florrie die Dachrinnen gelötet.«
»Ich erinnere mich sehr gut an ihn«, sagte Laura.
»Ein ziemlich grauenhafter Bursche, und er schien nie ein Hemd zu tragen, nicht mal im Winter. Er hatte immer einen hageren Jungen im Schlepptau, der für ihn Handlangerdienste verrichtet und ihm geholfen hat.«
»Kevin«, sagte Meredith.
»Wir glauben, er ist Ernie Berrys Sohn.«
»Ziemlich wahrscheinlich sogar«, sagte Paul.
»Jedenfalls einer von ihnen.«
»Einer von ihnen?« Dieser Aspekt der Dinge war weder Meredith noch Alan in den Sinn gekommen.
»Sicher. Das ganze Dorf ist voll von Ernies Bastarden, so viel weiß ich mit Sicherheit. Soweit ich es beurteilen kann, scheint es niemanden zu stören. Sie waren im Gegenteil alle immer ganz stolz auf Ernies Fähigkeiten.«
»Wie gut kennst du die anderen Dorfbewohner?«, fragte sein Schwager.
»Beispielsweise den Tierarzt oder den Arzt oder diesen kleinen Baulöwen Crombie?« Paul überlegte, bevor er die Schultern zuckte.
»Ich kenne eigentlich nur die Leute, mit denen Tante Florrie zu tun hatte. Den Arzt – du meinst Doc Burnett? Ja, den kenne ich. Er ist noch gar nicht so lange hier in Parsloe St. John.«
»Er hat eine junge Familie«, bemerkte Markby.
»Das ist richtig. Er hat allerdings auch eine Tochter von vielleicht dreizehn Jahren oder so. Sie geht auf ein Internat. Stammt aus einer früheren Ehe.«
»Er zahlt also Schulgebühren wie ein Verrückter«, murmelte Markby.
»Das könnte einiges erklären.«
»Crombie ist ein ungeschliffener Diamant, von der guten Sorte. Emma verträgt sich sehr gut mit seiner Tochter Julie. Pony-Mafia, wenn du mich fragst. Armitage und seine Frau haben wir auch kennen gelernt, nicht wahr, Laura? Ein nettes Paar.«
»Was ist mit Olivia Smeaton?«, fragte Meredith.
»Die gute alte Olivia? Tante Florrie hat immer über sie geredet«, sagte Laura.
»Ich glaube, Tante Florrie hat versucht, sich mit Olivia anzufreunden, als sie hierher gezogen ist, aber sie kam nicht sehr weit. Sie hat immer gesagt, dass Olivia einen Gürtel aus Verteidigungslinien um sich herum errichtet hätte, durch den niemand hindurchkäme. Tante Florrie meinte, dass Olivia vielleicht eine Menge übler Erfahrungen gemacht hat und Angst davor hatte, dass man ihr erneut wehtun könnte.«
»Sie mochte Julie Crombie, glaube ich«, sagte Markby.
»Ergibt Sinn.« Laura nickte.
»Eine ältere Dame, am Ende ihres Lebens angekommen. Ein hübsches, helles junges Mädchen, das Leben noch vor sich. Sie hat wohl den symbolischen Stab weitergegeben, wie bei einem Staffellauf. Olivia war am Ende und Julie ganz am Anfang des Rennens. Hat sie Julie nicht auch Geld hinterlassen?«
»Zweitausend Pfund«, sagte Alan.
»Ihrer Haushälterin hat sie viel weniger vermacht. Einer allein erziehenden Mutter, die das Geld dringend gebrauchen kann.«
»Ah«, sagte Paul weise.
»Vergiss nicht, dass Olivia eine Grande Dame aus der älteren Generation war. Janine Catto war trotz ihrer Kampfstiefel und ihres unabhängigen Stils eine Dienstbotin. Tut mir Leid, wenn ich das sagen muss – Janine würde sich sicherlich nicht so sehen –, aber Olivia hat sie als Dienstmagd betrachtet.« Er erhob sich, um die Gläser reihum wieder aufzufüllen.
»Janine hat auch für Tante Florrie geputzt. Sie war sich nicht zu schade für das ein oder andere Schwätzchen. Offensichtlich bekam Olivia so gut wie nie Post, außer von Behörden oder so, bis auf ein Mal, als sie einen Brief von einem Verwandten ihres verstorbenen Ehemanns erhielt.«
»Lawrence Smeaton?« Alan blickte seinen Schwager überrascht an.
»Janine wusste nicht genau, von wem der Brief stammte, doch es war der gleiche Familienname. Smeaton. Olivia war sehr aufgebracht. Sie wanderte den ganzen Tag durchs Haus und murmelte vor sich hin. ›Wie kann er es wagen!‹ und Ähnliches. Sie hat ihr Mittagessen verschmäht. Anscheinend hat sie selbst den Brief persönlich nie beantwortet. Janine hat mitgehört, wie sie deswegen mit ihrem Anwalt telefoniert und ihn beauftragt hat, den Brief in ihrem Namen zu beantworten. Sie hat gesagt, dass sie nichts mit diesem Menschen zu tun haben wolle und dass er sich nicht wieder bei ihr melden solle.« Markby hielt sein Weinglas ins Licht und bewunderte die rubinrote Farbe.
»Das ist wirklich sehr interessant. Der alte Lawrence Smeaton hat versucht, sich mit ihr zu versöhnen, wie? Er hat ihr einen Olivenzweig dargeboten, entschuldigt das Wortspiel, ein Friedensangebot gemacht, und hat die kalte Schulter gezeigt bekommen. Hast du irgendeine Idee, wann das gewesen ist, Paul?«
»Muss schon eine ganze Weile her sein. Zwei Jahre wenigstens. Jedenfalls lange vor ihrem Tod.«
»Aber er ist weder zur Gerichtsverhandlung noch zu ihrem Begräbnis nach Parsloe St. John gekommen«, bemerkte Meredith.
»Wärst du gekommen?«, fragte Markby.
»Nachdem man dich mit einem Anwalt hätte abblitzen lassen?« In der Küche ertönte ein Scheppern, gefolgt von Vickys Stimme, die erregt schimpfte.
»Böse Katze! Böse, böse Katze!« Die anderen ließen ihren Wein stehen und eilten in die Küche, um nachzusehen, was geschehen war. Nimrod war nirgendwo zu sehen. Vicky stand beim Küchentisch und hielt das Hühnchen mit der linken Hand an ihr Sommerkleid gedrückt, auf dem bereits zahllose Fettflecken waren, und schwang mit der rechten einen Schlegel, den sie aus dem Hühnchen gerissen hatte.
»Oh, Vicky!«, rief ihr gequälter Papa.
»Was hast du nun schon wieder angestellt?«
»Ich war das nicht!«, erwiderte die Kleine indigniert.
»Das war die Katze! Sie war auf dem Tisch. Sie hat das Bein ausgerissen.« Sie schwenkte den Schlegel vor ihren Gesichtern. Nimrod hatte offensichtlich zu seiner Freude herausgefunden, dass die Küche ungeahnte Möglichkeiten für Raubzüge bot.
»Er kann doch unmöglich schon wieder Hunger haben!«, protestierte Meredith verwundert.
»Er hat den Bauch noch voll mit Würstchen. Vielleicht wollte er den Schlegel für später verstecken.« Sie untersuchten den Vogel. Der Schlegel und ein Teil der Brust zeigten eindeutig Zahnspuren und einen langen Kratzer wie von Katzenkrallen.
»Diese Seite muss weg«, grollte Paul.
»Dieses verdammte Mistviech. Die andere Seite sieht unversehrt aus. Dieser verflixte Vielfraß!«
»Wir schneiden einfach alles heraus, Paul«, versuchte seine Ehefrau ihn zu beschwichtigen.
»Ich gebe es Wynne, und die Katze kann es fressen – sie wird tagelang daran zu kauen haben. Wir haben noch genug, auch ohne das Hühnchen.«
»Ich wollte euch doch unbedingt meine Aprikosenfüllung zum Kosten vorsetzen!«, jammerte der Koch. Sie bemühten sich alle, ihn zu trösten, doch er war am Boden zerstört.
»Wenn ich dieses elende Tier heute noch einmal zu Gesicht kriege, schlage ich ihm den Schädel ein, das schwöre ich!«, versprach er.
»Ich werde diesen Kater lehren, seine diebischen Pfoten bei sich zu lassen!« Constable Darren Wilkes war mit hochfliegenden Plänen zur Polizei gegangen, ermutigt durch seinen Onkel Stan. Onkel Stan war dreißig Jahre lang im Polizeidienst gewesen und im Dienstrang eines Station Sergeant in den Ruhestand versetzt worden. Der Onkel hieß die Berufswahl seines Neffen mehr als gut, auch wenn die Polizei nicht mehr das Gleiche war wie früher.
»All diese Senkrechtstarter!«, schnaufte er missbilligend.
»Diese Universitätsabgänger, Karrierehengste und was weiß ich nicht alles! Sie mögen ihre Titel haben, zugegeben, klug genug sind sie allemal. Was ihnen fehlt, Darren, das ist Erfahrung! Erfahrung lernt man nicht auf der Schule! Erfahrung sammelt man draußen, wenn man auf Streife geht!« Die letzten Worte pflegte Onkel Stan mit einer weit ausholenden Geste zu begleiten, die durch das Fenster nach draußen in eine unbestimmte Ferne zeigte, ähnlich einem Scout während der nordamerikanischen Pionierzeit, der seinem Wagentreck das Signal zum Aufbruch gibt:
»Westward ho!«
»Erfahrung, Darren, das ist das Einzige, was am Ende zählt!«, pflegte Onkel Stan seine Moralpredigt zu beschließen. Darren war zwar weit davon entfernt, seinem Onkel Stan zu widersprechen – im Großen und Ganzen war er der gleichen Meinung –, doch er hatte angefangen, sich zu fragen, ob er nicht vielleicht ein wenig überoptimistisch gewesen war, als er sich vorgestellt hatte, wie er in den Rängen der Polizei in schwindelerregende Höhen aufstieg. Er wusste, dass er eifrig war und begierig zu lernen. Doch wann immer er Inspector Crane betrachtete (und ganz ehrlich, sie sah atemberaubend aus!), begannen sich in seiner Brust Zweifel zu regen, genau wie im Herzen eines viktorianischen Geistlichen beim Lesen von Darwins Ursprung der Spezies. Aufstieg bei der Polizei bedeutete in seinem Fall Konkurrenz mit den Universitätsabgängern und ihren akademischen Abschlüssen, ihrem gepflegten Umgang mit der englischen Sprache, ihrem geschniegelten Äußeren, ihrem garantierten Aufstieg und Namen wie Amanda, Sebastian oder James (niemals Jim). Eine Hand voll Belobigungen und ein Name wie Darren erzeugten einfach nicht die gleiche Grundlage für Zuversicht – ganz gewiss nicht die gleiche Art Selbstvertrauen –, die den Amandas und Sebastians und wie sie alle hießen ermöglichte, einem Chief Constable in die Augen zu sehen und sich höflich und mit dem erforderlichen Respekt mit ihm zu unterhalten, ohne dabei auch nur eine Spur nervös zu werden. Einige von Darrens Kollegen in der Kantine machten unfreundliche Witze auf Kosten von Inspector Crane. Zum Teil, entschied Darren, weil sie in ihr ein verwöhntes Balg vermuteten. Die meiste Zeit jedoch, weil sie in Amanda Crane eine Bedrohung sahen, ihre Intelligenz ablehnten und unterschwellig ahnten, dass Inspector Crane die Zukunft repräsentierte. Darren respektierte Cranes scharfen Verstand und die gewandte Art, wie sie mit dem Gekicher und dem Zwinkern umging. Er wollte ihr unbedingt gefallen – nicht in MannFrau-Begriffen, sondern als Polizeibeamter. Er wollte ihr beweisen, dass er keiner von diesen pubertierenden Bullen war. In seiner Fantasie spielte er den Watson, und sie war Sherlock Holmes. Nun ja, ein wenig heller als der alte Watson war er schon. Darren hatte die Bücher nie gelesen, doch er hatte die vielen alten Schwarzweißfilme im Fernsehen gesehen, mit Basil Rathbone und Nigel Bruce. Doch heute, an diesem sehr frühen Montagmorgen, an dem der Tau noch die Wiese befeuchtete, wurde Darren bewusst, dass er Inspector Crane eine ganze Menge beweisen musste, bevor er eine solche Rolle annehmen konnte. Die Suchmannschaft hatte sich in kleinen Gruppen versammelt, und die Männer standen fröstelnd herum, rauchten hinter einem Busch und unterhielten sich, klagten, dass niemand am Wochenende in der Lotterie gewonnen hatte, zusammengenommen ein ganz gewöhnlicher Montagmorgen also. Ob hier draußen oder auf der Wache, die Unterhaltungen drehten sich im Grunde genommen immer um das Gleiche.
»Also los, weiter geht’s!«, befahl Sergeant Morris und scheuchte die kleinen Gruppen auf.
»Als Nächstes werden wir den ummauerten Küchengarten in Angriff nehmen, und wenn wir dort nichts finden, geht es in den großen Garten. Irgendwelche Fragen?« Niemand hatte Fragen. Eine Stimme murmelte leise:
»Was sollte es für Fragen geben? Wir suchen nach einem verdammten Messer in einem blöden Dschungel.«
»Durchaus möglich, dass es ein Dschungel ist, Henderson«, entgegnete der Sergeant ätzend.
»Ich nehme doch an, dass Sie das meinten?«
»Selbstverständlich, Sir. Wir sind schon auf dem Weg, Sir.«
»Inspector Crane ist gerade gekommen, Sir. Ihr Wagen steht vorn auf dem Vorplatz.«
»Dann haben wir wenigstens etwas, das sich anzuschauen lohnt«, murmelte Henderson, diesmal vorsichtiger, damit der Sergeant ihn nicht hören konnte. Darren Wilkes marschierte zusammen mit den anderen zu dem kleinen Küchengarten und wurde in die feuchteste Ecke abkommandiert. Onkel Stan hätte diese Aufgabe bestimmt genossen – er war Hobbygärtner, und er hätte diesen Garten sicherlich in Schuss gebracht. Ein Schnitt hier, ein Schnitt da, das Unkraut ausgerissen … muss ein großartiges Gefühl gewesen sein in der damaligen Zeit, in solch einem Haus zu leben mit einer Menge Dienstboten, die sämtliche Arbeit erledigten. Wenn ich jemals in der Lotterie gewinne … Doch im Grunde genommen hatte Darren nicht die leiseste Vorstellung, was er mit dem Geld anfangen würde, sollte er jemals ein Vermögen im Lotto gewinnen – außer einen schnellen Wagen kaufen und teure Urlaube machen. Im Lotto zu gewinnen gehörte nicht unbedingt zu seinen Tagträumen und rangierte Welten hinter seinem Lieblingstraum, gemeinsam mit Amanda Crane komplizierte Kriminalfälle zu lösen. Er stocherte in einem Haufen moosbewachsener Pflanzentöpfe in einer Ecke und scheuchte eine Vielzahl kleiner Tierchen auf, während er seinem Traum nachhing.
»Wilkes!« Ja, das war ihre Stimme. Er gestattete sich ein Lächeln und ging weiter zu einem zerbrochenen Frühbeet.
»Wilkes!«
»Oh, Mist!« Darren zuckte zusammen.
»Jawohl, Ma’am! Entschuldigung, Ma’am, ich hab Sie nicht gesehen.«
»Wir müssen heute Morgen mit diesem Gebiet fertig werden und den nächsten Garten absuchen. Es dauert viel zu lange. Ich möchte niemanden hetzen, aber versuchen Sie, sich ein wenig zu beeilen, ja? Sie haben ausgesehen, als würden Sie träumen, und still vor sich hin gegrinst!«
»Entschuldigung, Ma’am«, wiederholte der glücklose Wilkes mit puterrotem Gesicht. Sie wandte sich ab. Hoffentlich hatte niemand gehört, wie sie ihn kritisiert hatte. Sie hatte Recht – keine Zeit für Tagträume! Onkel Stan hätte es ebenfalls missbilligt. Mit konzentriert in Falten gelegter Stirn ging er in die Hocke und beugte sich über das Beet. Das Gebilde, das einst einen stolzen Viktorianer in die Lage versetzt hatte, preisgekrönte Gurken und Kürbisse zu ziehen, war in einem bedauernswerten Zustand. Das Holz war gebrochen, die Scheiben gesplittert oder verschwunden und mit Schmutz überkrustet. Vorsichtig, um sich nicht an den Glasscherben zu verletzen, hob Darren den Deckel der Konstruktion, während er jeden Augenblick damit rechnete, dass sie in sich zusammenfiel. Er spähte in das schattige, feuchte Innere. Es roch nach Moder und Fäulnis.
»Puh!«, murmelte Darren und rümpfte angewidert die Nase. Der Boden war mit altem, vermoderndem Stroh bedeckt, einer Brutstätte für Schnecken aller Art. In den Ecken standen noch mehr Blumentöpfe. Das Ganze lud nicht gerade zu weiterem Suchen ein, und Darren wollte den Deckel bereits wieder schließen, als ihm auffiel, dass die Töpfe – im Gegensatz zu denen von vorhin – zwar schmutzig waren, jedoch frei von Moos oder grünen Algen. Vielleicht hatten die Überreste des Deckels sie vor Wind und Wetter und zu viel Feuchtigkeit geschützt. Er hob einen Topf auf. Er war moosbewachsen, jedoch auf der Unterseite! Darren lief ein Schauer über den Rücken. Irgendjemand hatte diese alten Töpfe erst vor kurzer Zeit bewegt. Sie standen noch nicht lange in ihrer jetzigen Position. Er begann die Töpfe aufzuheben, ganz vorsichtig, einen nach dem anderen. Als er alle aus dem Frühbeet auf den Pfad neben sich gestellt hatte, schob er das darunter liegende Stroh zur Seite.
»Inspector Crane, Ma’am!« Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung, doch das war Darren in diesem Augenblick egal. Er hob den Arm.
»Inspector Crane! Hierher, Ma’am! Ich glaube, ich habe etwas gefunden!« Sie eilte zu ihm, genau wie Sergeant Morris, in dessen vierschrötigem Gesicht nichts als blankes Misstrauen zu sehen war.
»Was hat das zu bedeuten, Wilkes?«, grollte der Sergeant. Doch Darren ignorierte ihn völlig und wandte sich, getreu seinem Lieblings-Tagtraum, direkt an Amanda Sherlock Crane.
»Es liegt unter dem Stroh versteckt, Ma’am!«, berichtete Darren. Sie steckten die Köpfe zusammen, Amanda direkt neben dem von Darren, während Sergeant Morris sich frustriert bemühte, ebenfalls einen Blick in das Frühbeet zu werfen. Und tatsächlich, unter dem Stroh glänzte Metall.
»Ein Messer, Ma’am!«, rief Morris aufgeregt. Er stieß den gekränkten Darren Wilkes zur Seite.
»Aus dem Weg, Constable!« Das Messer wurde ganz vorsichtig aus dem Beet gehoben. Es war ein großes Ding, mehr eine Machete als ein Messer. Die massive Klinge war rasiermesserscharf geschliffen und steckte in einem Heft, das mit Schnüren umwickelt war, um einen sicheren Griff zu gewährleisten.
»Selbst gemacht, schätze ich«, sagte der Sergeant.
»Diese Art Messer liegt immer nach Bandenkämpfen herum. Sie richten schlimme Sachen an, diese Messer. Schneiden ganz leicht durch Gliedmaßen und so weiter.« Die Bedeutung seiner Worte blieb niemandem verborgen. Morris’ Stimme bebte ein wenig.
»Es könnte die Tatwaffe sein, Ma’am«, sagte er.
»Versteckt, wo niemand nach ihr suchen würde, genau, wie ich es gesagt habe.« Er blinzelte mit verkniffenen Augen auf das Messer und grunzte.
»Wird ziemlich schwierig werden, von diesem schnurumwickelten Griff einigermaßen brauchbare Fingerabdrücke zu nehmen. Aber hier auf der Klinge sind ein paar Flecken; vielleicht ist es Blut.«
»Richtig.« Amanda Crane klang erleichtert. Sie hatte sich mehr Sorgen gemacht, als sie sich selbst einzugestehen bereit war, dass sie die Tatwaffe vielleicht niemals finden würden.
»Packen Sie das Messer in einen Beutel«, ordnete sie an, bevor sie sich zu dem im Hintergrund zappelnden Darren umwandte.
»Sehr gut, Wilkes.«
»Danke sehr, Ma’am!« Warte nur, Onkel Stan, bis du diese Geschichte hörst!, dachte er. … ein berüchtigtes Stück Zauberei, lange praktiziert von Hags … dem eine wohlgesinnte Macht innewohnte … Hexenkunst beschrieben und erklärt, A. D. 1709
KAPITEL 18
MEREDITH STAND unentschlossen vor der chaotischen Schaufensterauslage von WIR-HABEN-ALLES. Der Kater lag dort und schlief, doch diesmal in einer anderen Ecke. Unter ihm lag ein zerdrückter ausgeklappter Papierfächer. Er erweckte noch immer den Eindruck, als müsste er herausgenommen und abgestaubt werden, um anschließend mit einem Preisschild am Hals wieder in die Auslage gelegt zu werden. Doch wenigstens hatte er demonstriert, dass er imstande war, sich zu bewegen.
Meredith betrachtete die Tür des kleinen Geschäfts. Ein Schild hing schief an einem Saughaken in der Scheibe und verkündete, dass das Geschäft geschlossen war. Hinter der Scheibe gab es kein Anzeichen von Leben. Der Kater hatte den ganzen Laden für sich allein.
Sie wanderte Stable Row hinunter. Die Danbys waren am Abend zuvor wieder nach Hause gefahren, nicht ohne ihre Besorgnis um das Wohlergehen von Meredith und Alan in ihrem Cottage auszudrücken. Bevor sie gefahren waren, hatte Paul unbedingt die Hintertür von der Küche in den Garten vernageln wollen, sodass sie nicht mehr benutzt werden konnte, bis eine neue eingesetzt war.
»Das wird jeden Einbrecher draußen halten!«, hatte Paul mit dem Hammer in der Hand verkündet.
»Und was, wenn ein Feuer ausbricht?«, hatte sein Schwager gefragt.
»Dann springt ihr aus dem Fenster, oder? Du kannst diese Tür nicht die ganze Nacht lang offen lassen, solange ein Irrer in der Gegend herumläuft. Du wirst den Einbruch auf der Wache melden, oder? Es war definitiv Vandalismus! Er hat überhaupt nichts mitgenommen. Wir haben alles genau überprüft!« Markby versprach, den Einbruch zu melden, und genau das tat er in diesem Augenblick, an diesem frühen Morgen. Meredith stellte ihre eigenen Erkundigungen an. Was auch immer hier in Parsloe St. John vorging, sie hatte genug davon. Ganz besonders, seit der Irre seine Aufmerksamkeit definitiv auf sie und Alan gerichtet hatte. Stable Row lag leer und still im Schein der Morgensonne. Kein Bruce und kein Ricky liefen auf der Straße herum. Wahrscheinlich waren sie wieder in der Schule, wo sie ihren Lehrern das Leben zur Hölle machten. Meredith hoffte, dass dies der Fall und die Catto-Brüder nicht zu Hause waren, als sie an Janines Tür klopfte. Sie wollte mit der Mutter sprechen, und zwar alleine. Die wachen, misstrauischen Altmännergesichter der beiden Brüder, voll bösartiger Intelligenz, hätten sie dabei nur gestört. Von irgendwo im Haus erklang eine Kakophonie, die sich nach einem viel zu laut eingestellten Fernseher anhörte, doch niemand kam zur Tür, um Meredith zu öffnen. Möglicherweise war Janine aus dem Haus gegangen, ohne den Fernseher auszuschalten. Genau wie der Fernseher im Cottage der Berrys ein lautloses buntes Kaleidoskop von Bildern produziert hatte, ohne dass sie von irgendjemandem beachtet worden wären, so schaltete Janine Catto wahrscheinlich auch gleich als Erstes am Morgen den Fernseher ein, um ihn anschließend den ganzen lieben langen Tag laufen zu lassen, bis es Zeit zum Schlafengehen war. Manchmal saß niemand im gesamten Haushalt davor und folgte dem Programm. Der Fernseher als sprechende Tapete. Überall im Land behandelten Menschen ihre Fernsehgeräte wie Haustiere. Sie lebten mit ihnen. Fernseher hatten ein Recht zu laufen. Meredith würde diese Denkweise niemals verstehen können, doch sie hatte längst resigniert. Wie um ihre Gedanken zu widerlegen, verstummte das Geplärre mit einem Mal, mitten in einer wilden Verfolgungsjagd, und schlurfende Schritte wurden laut. Eine Stimme hinter der Tür rief streitlustig:
»Wer ist da?« Meredith nannte ihren Namen und fügte erinnernd hinzu, dass sie bereits einmal zusammen mit Mrs Carter da gewesen wäre. Die Tür wurde geöffnet, und Janine Catto erschien im Morgenmantel und mit den Schaffellpantoffeln an den Füßen. Sie hatte ein blaues Auge. Verwirrt und erschrocken stammelte Meredith eine Entschuldigung, weil sie unangemeldet vorbeigekommen wäre und gestört hätte.
»Schon gut«, antwortete Janine, »kein Problem. Ich dachte, Sie wären vielleicht schon wieder einer von diesen Zeitungsheinis. Deswegen habe ich auch erst so spät aufgemacht. Kommen Sie rein?« Das Innere des kleinen Hauses repräsentierte jene besondere Art moderner Armut, die Meredith stets als deprimierend und frustrierend zugleich empfand. Wenige und billige Möbelstücke kontrastierten mit kostspieligen Luxusgütern, die frühere Generationen in einem ähnlichen finanziellen Engpass einfach nicht angeschafft hätten. Die Prioritäten hatten sich geändert. Janines Mobiliar sah aus wie aus einem Secondhandshop. Das Haus besaß keine Zentralheizung, sondern nur einen Kohleofen, der trotz des relativ milden Wetters brannte, weil er Wärme zum allgemeinen Gebrauch lieferte. Vor dem Ofen stand ein altmodischer Wäscheständer aus Holz, auf dem ausgewaschene Knabenjeans zum Trocknen hingen. Der einfache Lebensstil der Cattos wurde unterminiert durch einen gigantischen Fernseher und einen teuren Videorekorder, der darunter auf dem abgewetzten Teppich stand. Der allgemeine Eindruck war unordentlich, wenngleich sehr sauber. Janine hatte auf zerdrückten, pflaumenfarbenen Samtkissen gesessen, die sich wahllos auf dem braunen Möbelplüsch eines alten, durchgesessenen Sofas stapelten. Der Platz lag strategisch günstig zwischen Feuer und Fernseher. Sie hatte in einem Magazin über Popmusik und Kultur gelesen und dabei Zwiebel-Käse-Chips gegessen. Es war Meredith unmöglich, ihr blaues Auge zu ignorieren, doch die Höflichkeit verbot ihr, diesbezüglich Fragen zu stellen. Janine löste das Problem.
»Sie starren mein Veilchen an, wie …?« Sie hob die Hand und betastete vorsichtig die empfindliche Region rings um ihr Auge.
»Es sieht ziemlich schlimm aus«, gestand Meredith.
»Ja, es kommt jetzt richtig raus«, stimmte Janine ihr zu. Sie ging zu einem Spiegel über dem Ofen und spähte hinein. Der Wäscheständer wankte bedenklich und drohte umzukippen und seine Fracht in das offene Feuer zu entladen. Meredith streckte die Hand aus und hielt ihn fest.
»Ja, es wird schon gelb«, fuhr Janine fort. Sie klopfte ein paar Chipskrümel von ihrem Morgenmantel und setzte sich mitten in ihren imperialen Kissenberg.
»Ich hatte eine Prügelei. Mein letzter Freund ist aus dem Nichts aufgetaucht. Ich hab ihm gesagt, dass er sich verp–« Janine räusperte sich und verbesserte sich anständigerweise.
»… dass er sich verziehen soll. Er war sowieso nur gekommen, um sich Geld zu leihen oder nachzusehen, ob es etwas zum Klauen gibt, das er verkaufen könnte.« Der Videorekorder vielleicht. Janine hatte ihr Eigentum heftig und erfolgreich verteidigt, doch nicht ohne selbst Blessuren davonzutragen.
»Hat er Sie sonst noch irgendwo verletzt, Janine?«, erkundigte sich Meredith mitfühlend und besorgt zugleich.
»Nein, wie ich schon sagte, wir hatten eine kleine Prügelei, und ich hab ihn rausgeworfen. Er kommt bestimmt so schnell nicht wieder.« Sie klang zuversichtlich. Merediths Blick fiel auf die Knabenhosen, während ihr Pauls Worte durch den Kopf gingen und seine Behauptung, dass Ernie Berrys Nachkommenschaft überall im Dorf zu finden sei. Ihr kam ein alarmierender Gedanke. Bruce und Ricky waren doch wohl nicht ebenfalls …?
»Dieser, äh, frühere Freund, ist er der Vater Ihrer Kinder?« Janine nickte.
»Aber er kommt nie, um seine Kinder zu sehen. Er bezahlt auch keinen Unterhalt, nichts.«
»Er wohnt nicht hier im Dorf? In Parsloe St. John?«, fragte Meredith.
»Nein, wo denken Sie hin?«, erwiderte Janine und fügte hinzu:
»Übrigens genauso wenig wie ich. Ich komme ursprünglich aus Long Wickham – das liegt ungefähr fünfzehn Kilometer von hier entfernt.« In dieser Gegend reichten fünfzehn Kilometer gut und gerne, um jemanden nicht mehr als
»einheimisch« zu bezeichnen.
»Wohnen Sie gerne hier in Parsloe St. John?«
»Eigentlich nicht, nein. Es ist genauso langweilig wie in Long Wickham. Nichts los. Hier gibt es ein paar Läden und eine Schule. Drüben in Long Wickham gab es nicht mal ein Geschäft, geschweige denn eine Schule, deswegen ist es hier für mich besser, mit den Kindern und so. Möchten Sie eine Tasse Tee?« Sie war bereits auf dem Weg in die Küche und hantierte lärmend mit dem Wasserkessel. Dann kam sie zurück und lehnte sich gegen den Türrahmen.
»Dauert nicht lange. Das Wasser muss nur eben kochen. Warum sind Sie hergekommen?« Meredith war gekommen, um mit Janine über Olivia zu reden und Pauls Behauptung zu überprüfen, dass Janine schwatzhaft war, doch dieses Thema musste versteckt angegangen werden.
»Mein Freund und ich werden am Ende der Woche das Cottage räumen, in dem wir unseren Urlaub verbracht haben. Am Sonntagnachmittag. Mrs Carter hat einen Schlüssel, und ich habe überlegt, ob Sie vielleicht Zeit hätten, am kommenden Montag hinzugehen und alles gründlich zu reinigen, damit es für die nächsten Mieter frisch und sauber ist. Ich räume selbstverständlich vorher auf, und es wird nicht allzu viel Arbeit werden. Ich würde im Voraus bezahlen.«
»Sicher, kein Problem«, sagte Janine und legte die Stirn in Falten, während sie rechnete.
»Wird nicht länger als zwei Stunden dauern, höchstens, und das mit den Fenstern. Sagen wir einen Zehner?«
»Ich gebe Ihnen fünfzehn«, sagte Meredith und öffnete ihre Geldbörse.
»Für den Fall, dass Sie aus irgendeinem Grund vielleicht doch länger benötigen.« Und weil zehn Pfund für Meredith wirklich nicht so viel Geld waren, im Austausch für zwei Stunden harter Hausarbeit, von der Meredith wirklich nicht viel hielt. Sie bezweifelte, dass Olivia anders gedacht hatte. Rookery House mit seinen hohen Räumen und den großen Fenstern und den zahlreichen Holzvertäfelungen und geschnitzten Geländern war von Janine tadellos sauber gehalten worden, und sie war ganz allein gewesen. Sie hatte weit mehr getan als das, was man hätte erwarten dürfen, und doch hatte die altmodische, versnobte Olivia, ansonsten eine freundliche Frau, soweit Meredith wusste, ihrer Haushälterin einen lächerlichen Betrag hinterlassen und einem verwöhnten kleinen Mädchen, dem einzigen Kind eines reichen Mannes, zweitausend Pfund vererbt. Wann immer Meredith über diese Ungerechtigkeit nachdachte, verhärteten sich ihre Gefühle gegenüber der Verstorbenen. Ihr Blick fiel einmal mehr auf den kostspieligen Videorekorder, und sie fragte sich, ob Janine vielleicht noch ein anderes Nebeneinkommen hatte, über das weniger geredet wurde als über ihre Fähigkeiten im Haushalt. Falls ja, so wäre es nicht weiter überraschend; mit zwei jungen hungrigen Mäulern und ohne jeden Unterhalt vom Vater hatte sie wahrscheinlich jeden Penny nötig, den sie in die Finger bekam. Und angenommen …, flüsterte eine leise Stimme in Merediths Kopf, … nur einmal angenommen, Janine hatte das Geld wirklich dringend nötig und war der Meinung, dass Olivia ihr weit mehr hinterlassen würde als die mageren paar Hundert Pfund …? Janine nahm die beiden Banknoten aus Merediths Hand und steckte sie in die Tasche ihres Morgenmantels.
»Machen Sie sich keine Gedanken, ich kümmere mich um alles«, sagte sie.
»Aber noch sind Sie ja nicht weg; Sie haben ja noch die ganze Woche Zeit. Ich bin nicht gerade ausgebucht, wissen Sie?«
»Ja, ich weiß«, erwiderte Meredith. Janine verschwand in der Küche und kehrte ein paar Augenblicke später mit zwei dampfenden Bechern Tee zurück. Einen davon reichte sie ihrer Besucherin.
»Und? Werden Sie das alte Haus kaufen?«
»Das alte Haus?« Meredith blickte sie an.
»Ach, Sie meinen Rookery House. Ich bezweifle es.« Meredith hoffte, dass sie nicht schuldbewusst klang.
»Es ist ein sehr hübsches Haus, aber es ist viel zu groß – und erst dieses riesige Grundstück.« Janine setzte sich wieder auf das Sofa und klopfte die pflaumenfarbenen Kissen zurecht.
»Die sind aus Rookery House, wissen Sie? Als all die Sachen verkauft wurden und das Haus geräumt wurde. Alles wurde nummeriert und geschätzt, aber bevor der Typ kam, hab ich diese Kissen mit nach Hause genommen – wer sollte schon einen Haufen alter Kissen kaufen? Selbstverständlich habe ich vorher den Nachlassverwalter gefragt«, fügte sie sich rechtfertigend hinzu.
»Als ich ihn fragte, was ich mit diesen Pantoffeln anfangen soll.« Janine streckte einen Fuß aus.
»Mr Behrens, so heißt der Nachlassverwalter, hat gesagt, ich könnte sie ebenfalls behalten, und er wüsste keinen Grund, warum ich mir nicht ein paar Kissen mitnehmen sollte, wenn ich dafür Verwendung hätte. Die Kissen passen gut zu meinem alten Sofa hier.« Und was hast du sonst noch alles mitgenommen?, fragte sich Meredith. Mit oder ohne das Wissen und den Segen des Nachlassverwalters? Spielte es eine Rolle? Es wurde sowieso alles verkauft. Vielleicht hatte Janine geglaubt, ein Recht darauf zu haben, nachdem sie sich so viele Jahre um alles gekümmert hatte. Olivia besaß keine Verwandten. Sie hatte einen Brief erhalten, ein einziges Mal … alles führte hübsch und glatt zu Merediths eigentlichem Grund für den Besuch.
»Eine Schande, wenn jemand so stirbt und ein ganzes Haus geleert werden muss. Ich bin sicher, sie hatte sonst niemanden.«
»Ihr Mann starb im Krieg.«
»Oh, das hat sie Ihnen erzählt?« Janine dachte laut nach.
»Erst, nachdem ich schon eine ganze Zeit lang für sie gearbeitet hab. Sie war niemand, der viel über sich redete. Eines Tages kam ein Brief von einem Mr Smeaton, der offensichtlich zur Familie ihres verstorbenen Mannes gehörte. Damals hat sie mir erzählt, dass ihr Mann im Krieg gestorben wäre und dass sie seither nichts mehr mit seiner Familie zu tun gehabt hätte.«
»Lag sie im Streit mit der Familie ihres Mannes? Oder hatten sie sich einfach auseinander gelebt?«, hakte Meredith scheinheilig nach.
»So etwas passiert schließlich häufig, wenn es keine Kinder gibt.«
»Hat sie nicht gesagt, aber ich schätze, es hat einen Krach gegeben, weil Olivia wegen dieses Briefes wirklich sehr aufgebracht war, das habe ich deutlich gespürt. Ihr Gesicht war totenbleich, bis auf zwei kleine rote Flecken hier oben …« Janine deutete auf ihre Wangen.
»Ich hatte sie noch nie vorher so gesehen. Sie zitterte am ganzen Leib. Ich dachte, sie würde vielleicht einen Anfall erleiden, und ging ihr schnell ein Glas Wasser holen. Sie rief bei Mr Behrens an, der schon damals ihr Anwalt war, und beauftragte ihn, den Brief zu beantworten. Sie wollte den Schreiber nicht sehen. Ich denke, wer auch immer den Brief geschrieben hat, er wollte Olivia besuchen. Ich glaube nicht, dass er je wieder geschrieben hat.«
»Und es gab sonst niemanden … sie hat nichts weiter unternommen, nachdem der Brief gekommen war?« Janines Augen glitzerten in plötzlichem Misstrauen, und sie musterte Meredith scharf. Sie hat mich durchschaut!, dachte Meredith verlegen. Sie hat erraten, dass ich nur hergekommen bin, um sie über Olivia auszufragen.
»Interessiert Sie das?«, fragte Janine kühl.
»In gewisser Weise, ja.« Besser, wenn sie jetzt offen zu Janine war.
»Warum? Stimmt irgendetwas nicht?« Janines ganzes Verhalten war vorsichtig abwartend.
»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Meredith wahrheitsgemäß. Janine leerte ihren Becher und blickte nachdenklich drein. Fast unwillig sagte sie schließlich:
»Sie hat etwas Merkwürdiges getan, nachdem dieser Brief gekommen war. Sie ging durch das ganze Haus und hat sämtliche Schränke und Schubladen durchwühlt, alles. Sie hat eine Menge alter Papiere und so weiter verbrannt. Entrümpeln, nannte sie es. Nicht, dass sie viel zu entrümpeln gehabt hätte. Sie sagte, das hätte sie ihr ganzes Leben lang so gemacht, von Zeit zu Zeit alles entrümpelt. Sie sagte, dass sie es deshalb täte, damit alles seine Ordnung hätte, wenn sie einmal sterben würde.« Alles in Ordnung, sicher! Nicht eine einzige Spur hat sie hinterlassen!
»Und nachdem dieser Brief von Smeaton kam, hat sie wieder einmal entrümpelt?«
»So sah es jedenfalls aus. Sie hat ein paar alte Papiere und ein Foto verbrannt.« Meredith unterdrückte ihre aufkeimende Erregung.
»Ein Foto?«
»Nicht von einer Person«, sagte Janine rasch.
»Ein Foto von einem alten Haus. Es sah ein wenig aus wie Rookery House, tatsächlich. Ich kam ins Zimmer, als sie vor dem Kamin kniete, die Briefe zerriss und ins Feuer warf. Ich sagte ihr, dass sie vorsichtig sein solle. Dann fiel mir dieses Foto auf. Sie hatte es zur Seite gelegt, als wollte sie es ebenfalls verbrennen und würde es bis zum Schluss aufsparen, vielleicht um einen letzten Blick darauf zu werfen, wissen Sie? Ich reichte ihr das Bild; ich wollte nur behilflich sein, und sie fuhr mich giftig an: ›Ich komme alleine zurecht, Janine, danke sehr!‹, und riss mir das Foto aus der Hand. Es segelte in die Flammen. Eine Schande, ehrlich, denn es war ein wirklich altes Bild. Es sah aus, als wäre es irgendwo auf dem Land aufgenommen worden, ein wenig wie unsere Gegend hier, jede Menge Bäume, ein Kirchturm dahinter wie die Kirche drüben, gegenüber von Rookery House. Sehr ähnlich sogar, ehrlich. Ich hätte sie gefragt, wenn sie nicht so gereizt gewesen wäre. Es ist nicht klug, jemanden noch weiter zu provozieren, der sowieso schon wütend ist, oder?«
»Keine Menschen auf dem Foto?«
»Nur ein Kind«, antwortete Janine.
»Ein kleines Mädchen, altmodisch angezogen mit einem Hut und so.« Sie begegnete Merediths Blick und hielt ihm stand.
»Ich kann Ihnen nicht mehr erzählen, tut mir Leid. Sie war eine merkwürdige alte Dame. Ich kam gut mit ihr zurecht. Aber man konnte sich nicht mit ihr anfreunden, wenn Sie verstehen, was ich meine?« Nur zu gut, dachte Meredith. Paul hatte völlig Recht gehabt. Olivia war eine altmodische Frau gewesen, und Janine war nur eine Dienstmagd. Man schwatzte nicht mit seinem Personal.
»Wirklich schade …«, sagte Meredith unaufmerksam, was ihr einen weiteren misstrauischen Blick von Janine einbrachte.
Wieder zurück im Cottage aßen Meredith und Alan die Überreste des Essens, das Paul und Laura am Vortag mitgebracht hatten.
»Du hast dich sehr gut geschlagen«, sagte Alan großzügig, wenngleich ohne rechte Begeisterung. Er kaute auf einer Käsestange.
»Das Foto ist ein ganz neuer Aspekt. Es muss der alten Dame eine Menge bedeutet haben, weil es anscheinend das Einzige war, das überlebt hatte, bis zu jenem Zeitpunkt zumindest, wenn man die Besessenheit bedenkt, mit der sie ständig ihre Vergangenheit entrümpelt hat.«
»Und doch hat der Brief von Lawrence sie genügend verängstigt, um es zu verbrennen.«
»Du meinst, er hat sie verängstigt? Nicht einfach nur wütend gemacht?« Meredith schüttelte den Kopf.
»Sie hatte eindeutig Angst. Natürlich kann ich nur raten, aber ich würde sagen, das alte Foto zeigte ihr Elternhaus und Olivia war das kleine Mädchen in altmodischen Kleidern, wie Janine es beschrieben hat, das darauf zu sehen war. Das ist der Grund, aus dem Olivia später Rookery House gekauft hat.«
»Wie das, Holmes?«
»Es sah ähnlich aus und hatte eine ähnliche Umgebung wie ihr Elternhaus. Janine hatte genügend Zeit, um dies zu bemerken, bevor Olivia ihr das Foto aus den Fingern riss. Sentimentale Beweggründe sind häufig stärker als klarer Menschenverstand. Leute behalten Dinge, die nur Plunder sind, die nicht mehr funktionieren, die nutzlos sind und ohne jeden finanziellen Wert – warum? Weil sie einen sentimentalen Wert besitzen. Olivia behielt dieses Foto, weil es die letzte Erinnerung an ihre Kindheit war, und doch veranlasste Lawrences Brief sie, es ins Feuer zu werfen. Sie hatte Angst, daran besteht in meinen Augen kein Zweifel.« Meredith nahm flink die letzte Käsestange, bevor Markby sie nehmen konnte.
»Selbst nach so vielen Jahren noch war der alte Lawrence eine Bedrohung für Olivia. Du musst ihn unbedingt treffen, Alan, und mit ihm reden.« Er seufzte zustimmend.
»Ich dachte, ich fahre heute Nachmittag zu Sir Basil rüber und unterhalte mich noch mal mit ihm. Vielleicht kann er einen Termin per Telefon vereinbaren, während ich dort bin. Kommst du mit?« Sie schüttelte den Kopf.
»Ich schätze, ich werde Wynne fragen, ob sie Kevin Berry besuchen will. Falls ja, gehe ich mit ihr.«
»Heute Nachmittag wohl kaum. Ich hab sie im Wagen wegfahren sehen, kurz bevor du von Stable Row zurückgekommen bist.« Meredith dachte nach.
»Trotzdem. Dann gehe ich Kevin eben allein besuchen. Er schien vollkommen am Boden zerstört, als wir beim letzten Mal dort waren. Ich habe keine Ahnung, was Amanda Crane deswegen unternimmt, falls sie überhaupt etwas unternimmt, aber Kevin braucht unbedingt jemanden, der sich um ihn kümmert und seine Interessen wahrt. Er könnte in diesem heruntergekommenen Cottage bleiben und verhungern, und niemand würde es bemerken!«
Das Cottage der Berrys sah keinen Deut besser aus als beim letzten Mal. Der von Unkraut übersäte Hof lag genauso trostlos da wie zuvor. Die Hühner pickten und scharrten im Erdreich rings um die Autowracks, die überall verstreut herumlagen wie nach einer Schlacht. Meredith blieb bei Olivias altem Einspänner stehen und versuchte sich vorzustellen, wie er ausgesehen hatte, als er noch in Gebrauch gewesen war. Das Pony zwischen den gelben Deichselstangen, wie es munter über die Straßen trabte, und Olivia auf dem Kasten, mit den Zügeln in der Hand. Wahrscheinlich ist sie glücklich gewesen, dachte Meredith. Sie war bestimmt glücklicher gewesen als in ihren letzten Jahren, solange sie noch mit ihrem Pony durch das Dorf fahren konnte und wenigstens nach außen hin ein Teil der Gemeinde gewesen war. Die letzten Jahre, allein und isoliert in ihrem selbst auferlegten Hausarrest, mussten sehr traurig und einsam gewesen sein.
Rein praktisch betrachtet war der Einspänner sicherlich eine hübsche Summe wert, selbst in seinem jetzigen Zustand. Kevin brauchte Geld, so viel stand außer Frage. Sie würde ihm vorschlagen, dass er ihn in die Zeitung setzte – oder Wynne bat, dies für ihn zu tun. Meredith bückte sich und drückte die hohen, grünen Kräuter mit den gelben Blüten zur Seite, die den Blick auf den unteren Teil des Wagens versperrten, und betrachtete die Räder dahinter. Sie waren stabil und wirkten fahrtüchtig. Sie würde Kevin definitiv vorschlagen, den Wagen zu verkaufen.